Europa: Ein ungewöhnliches Journalismus-Projekt

7. Juni 2013 • Qualität & Ethik, Ressorts • von

Gibt es den europäischen Leser? Diesen speziellen Leser, der das Leben von Menschen in den angrenzenden und doch fremden Ländern verstehen will, der wissen will, wie es um den Kontinent bestellt ist?

Zeitungen wie die Financial Times und das Wall Street Journal haben international Leser, doch sie decken hauptsächlich geschäftliche und wirtschaftliche Themen ab, die internationale Eliten betreffen. Keine Redaktion versuchte bisher, die normalen europäischen Bürger zu erreichen.

Im Januar 2012 brachten sechs große Tageszeitungen in europäischen Ländern – Le Monde, der Guardian, die Süddeutsche Zeitung, La Stampa, El Pais und Gazeta Wyborcza – ein Projekt namens Europa an den Start: Es ist ihr eigenes europäisches Experiment. Aus einer Unterhaltung beim gemeinsamen Abendessen erwachsen, stellt Europa ein publizistisches Produkt dar, wie es die Leser noch nie zuvor zu sehen bekommen haben.

Das Projekt ist mutig, innovativ und günstig. Eine Serie von Interviews mit den Schlüsselfiguren unter den involvierten Journalisten ermöglichte es dem Reuters Institute for the Study of Journalism, nun einen ersten Bericht über die Methoden, den Erfolg und auch die Grenzen von Europa zu erstellen.

Die Zeitung unterscheidet sich erheblich von allen früheren Versuchen, eine europäische Zeitung aufzubauen. 1991 brachte der heute berühmt-berüchtigte Verleger Robert Maxwell The European mit einer groß aufgestellten, auffälligen Marketing-Kampagne auf den Markt, die Geschäftsleute vorstellte, die im Hintergrund  die Strippen zogen und Models für edel anmutende Werbe-Fotoshootings engagierte.

Maxwell wollte eine Alternative zu den amerikanischen Magazinen wie Newsweek und Time schaffen. Seine Zeitung sollte sich an „Technokraten“  richten, „die Englisch wie eine zweite Muttersprache sprachen“. Der Plan war ambitioniert. Damals kontrollierten mächtige und häufig düster anmutende Mogule die Zeitungen, ihre Publikationen hatten häufig einen enormen Einfluss und verfügten auch über große finanzielle Ressourcen. Die europäische Staatengemeinschaft hingegen wurde als eine Art Neubeginn angesehen, als ein wohlhabender und vermögender Raum, in dem Grenzen und Konflikte künftig keine Rolle mehr spielen würden.

Doch niemand vertraute so richtig auf den Kontinent Europa im Sinne eines schillernden, stilvollen und mächtigen Raumes, der seine eigene Zeitung brauchen konnte. So war The European nach acht Jahren des Überlebenskampfes gezwungen, aufzugeben.

Europa kam 2012 unter vollkommen anderen Vorzeichen auf den Markt und die publizistische Idee hinter dem Projekt unterschied sich fundamental von der hinter The European. Es ist ein Kooperationsprojekt zwischen verschiedenen Unternehmen, es gibt nicht nur einen verantwortlichen Besitzer.  Das Herausgeber-Team besteht aus Mitgliedern von allen sechs beteiligten Zeitungen. Keiner der Partner verfügt über Europa oder hat das letzte Wort.

Die Kosten gering zu halten ist für alle Partner ein wichtiger Aspekt. Bereits angestellte Redakteure erstellen die Inhalte für die Zeitung. Europa hat keine eigenen Büros, die teilnehmenden Zeitungsredaktionen richten im rotierenden Turnus die Treffen in ihren jeweiligen Häusern aus. Die anderen Redakteure und Herausgeber reisen mit günstigen Tickets an, die Übersetzungen organisieren die jeweiligen Gastgeber intern.

Herausgeberische und allgemeine publizistische Entscheidungen fällen die Mitglieder gemeinsam. Das Team handelt einen Konsens darüber aus, wie die nächste Ausgabe grob aussehen wird: Das Hauptthema, die Leit-Geschichten, die Bereiche, die abgedeckt werden sollen, Offizielle oder Experten, die interviewt werden könnten, die Anzahl an Artikeln und ähnliche Formalia werden diskutiert. Die gemeinsame Arbeit ist auf diese Aspekte beschränkt, technische und geschäftliche Belange wie etwa die Beschaffung des Druckpapiers oder die Vermarktungspolitik bleiben den einzelnen Herausgebern für ihre jeweilige Europa-Beilage überlassen.

Europa baut auf der existierenden Leserschaft der Partner auf, was die Risiken verringert, die normalerweise bestehen, wenn eine neue Publikation in den Markt eintritt. Die Zeitung wird den gewöhnlichen Hauptausgaben der Mutterblätter beigelegt und ist in ihrem normalen Preis inbegriffen. Doch das wichtigste Alleinstellungsmerkmal Europas innerhalb der Medienlandschaft ist der Ansatz, über die EU zu berichten.

Die Herausgeber Europas hatten den Eindruck, dass die bisherige Berichterstattung über die Europäische Union zu stark auf die Institutionen und von Technokraten ausgeführte Politik der EU ausgerichtet ist. Sie entschieden, stattdessen über die menschliche Seite der EU zu berichten. Europa lebt von Geschichten über Menschen, normale europäische Bürger traten in der Berichterstattung an die Stelle von Direktiven und Richtlinien.

Die Publikation behandelt Themen wie die Perspektiven junger Europäer, Bildung wird genauso einbezogen wie Haushaltsfragen in der Krise der Eurozone. Das Besondere an der Berichterstattung Europas ist, dass die Autoren die jeweiligen Themen vergleichend aufziehen, die Erfahrungen eines Mitgliedsstaates werden also direkt neben die anderer Länder gestellt, Parallelen und Unterschiede werden herausgearbeitet.

Das Projekt hat erfahrene Politiker beeindruckt. Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Staatspräsident Francois Hollande und der ehemalige Chef des italienischen Regierungskabinetts Mario Monti erklärten sich allesamt bereit, Interviews zu geben. Mark Rice-Oxley, internationaler Planungs-Redakteur beim Guardian sagte, die Kooperation mache den starken Einfluss Europas aus. „Wenn wir an das Büro eines Politikers herantreten und um ein Interview für sechs europäische Zeitungen bitten, funktioniert das meist sehr gut“, sagte Rice-Oxley.

Doch trotz ihres Erfolges und der hohen Qualität der Berichterstattung zieht die Zeitung nur winzige Zahlen neuer Leser an und scheiterte – in den meisten Fällen – bei dem Versuch, neue Werbekunden zu gewinnen.  Viele der Partner, etwa der Guardian oder Le Monde zögerten, überhaupt Zahlen über die Nachfrage nach Europa-Artikeln herauszugeben.

Die beteiligten Zeitungen sind dennoch der Meinung, dass Europa weiterhin erscheinen sollte. Bei aller Enttäuschung über die geringen Werbeeinnahmen ist der Weg, wie die Herausgeber das Produkt verbreiten, doch effizient genug, um es zu erhalten. Im Gegensatz zu The European (und vielen anderen Projekten) ist das Produkt eher eine Initiative mit einer bestimmten publizistischen Idee und mit einem bestimmten journalistischen Anliegen, als eine gewinnorientierte Unternehmung.

Den Machern hat Europa geholfen, eine Beziehung zueinander aufzubauen, die nun auch Kooperationen in anderen Bereichen ermöglicht. Als Kanzlerin Angela Merkel Athen besuchte, stellte die Süddeutsche Zeitung der italienischen Partnerin La Stampa die Berichte zur Verfügung. Im Gegenzug belieferte diese die deutsche Partnerin mit Berichten vom Amtsrücktritt des Papstes Benedikt XVI. im Frühjahr, die französische Le Monde erlaubte der SZ indes, einige ihrer Berichte rund um den Mali-Konflikt zu übernehmen. Mithilfe der Partner erstellte der Guardian eine Grafik, die als kulturelle Landkarte Europas fungieren soll. Alle sechs Zeitungen setzten dazu Techniken des Crowd-Sourcing ein. Sie baten also ihre Leser, sie zu informieren, ob in ihrem Umfeld Kinos, Galerien Museen oder andere kulturelle Institutionen geschlossen werden sollen oder ob ihr Budget gekürzt wird.

Sie mag noch kein monetärer Erfolg sein, doch Europas Herausgeber glauben, dass die Zeitung eine Menge neuer Perspektiven eröffnet. Sie sehen in ihr eine Möglichkeit – trotz beschränkter Budgets und dem ständigen Druck auf Journalisten, kosteneffizient zu arbeiten – neue Wege des internationalen Journalismus auszuprobieren.

Übersetzt aus dem Englischen von Karen Grass

Original-Artikel: Europa: an Unusual Reporting Experiment

Bildquelle: Dayna Bateman / Flickr

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