Prosit zur Jahreswende. Zum Abschluss gab es einen schönen Höhepunkt an Mediendekadenz.
Immer wenn das verfluchte Jahresende naht, müssen wir überlegen. Wir müssen überlegen, wer der Kopf oder das Ereignis des Jahres war. In den Schweizer Medien gab es 2010 wenig Köpfe und Ereignisse. Es gab nur ein paar künstliche Aufgeregtheiten um Figuren wie Tito Tettamanti, Roger de Weck oder Michael Ringier. Es war courant normal.
Doch es gab eine Ausnahme. Es gab einen Kopf und ein Ereignis, die aus Schweizer Sicht einzigartig waren. Wir reden vom Prozess gegen Jörg Kachelmann. Er ist einzigartig, weil wir einen seltenen Tiefpunkt der jüngeren Mediengeschichte vorgeführt bekamen.
Der Tiefpunkt besteht in der neuen Rolle von Medien in einem Gerichtsfall. Wir erleben Medien als Hilfsstaatsanwälte. Sie werfen jede kritische Distanz über Bord und machen sich zu Komplizen der Anklage. Besonders gut kann das der Burda-Verlag, zu dem die Bunte und Focus gehören.
Zuerst feierten die Burda-Blätter das angebliche Vergewaltigungsopfer Sabine. Sie fegten vom Tisch, dass Sabine die Ermittler mehrmals angelogen und gefälschte Beweise vorgelegt hatte.
Doch dann geht es erst richtig los. Nun darf Isabella auftreten. Unter der Schlagzeile “Jetzt spricht die Ex-Freundin” posiert sie auf dem Cover der Bunten. Dann besucht sie Kachelmanns Ex-Frau in Kanada. Dann nimmt sie Kontakt zur Hauptklägerin Sabine auf. Die Justizbehörden versuchen, diese Verbindungen geheim zu halten.
Dann erscheint Anja auf dem Titelbild der Bunten. Sie verrät, dass Kachelmann “Sex mit mir hatte, obwohl ich nein gesagt und geweint habe”. Anja wird von der Bunten mit 5000 Euro bezahlt.
8500 Euro zahlt die Bunte kurz danach an Catharina, eine weitere Ex. Auch sie erzählt ihre tragische Geschichte, obwohl sie Kachelmann nur elfmal getroffen hat. Dann erzählt in Focus die Schweizerin Linda ihre tragische Geschichte. Ihre Telefonnummer hatte die Staatsanwaltschaft auf seinem Handy gefunden. Wie die Nummer zu Focus kam, ist rätselhaft.
Auffallend ist, dass die Isabellas, Anjas, Catharinas und Lindas gegenüber den Justizbehörden zuerst eine abgeschwächte Version der Liaison darstellen. Dann erscheinen sie in der Zeitschrift. Dann vertreten sie gegenüber Staatsanwalt oder Gericht plötzlich eine andere Version, die Kachelmann meist stärker belastet. Auffallend ist auch, dass die Ex-Geliebten in der Presse detailliert ihre Beziehung ausbreiten und vor Gericht dann unter schonendem Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen dürfen.
Beeinflussung durch Journalisten
Die Medien arrangierten zudem Treffen zwischen verschiedenen Zeuginnen zum Zweck der Absprache. Es ist zu vermuten, dass die Journalisten die Zeuginnen zu beeinflussen versuchten. Vielleicht taten sie es gar in Absprache mit der Anklage. Wir können es nur vermuten, wir können es nicht beweisen. Wir formulieren die Vermutung darum so zurückhaltend, damit die Weltwoche nicht eingeklagt werden kann.
Gestützt wird unsere Vermutung auch durch die Deals mit den Ex-Geliebten. Catharina etwa unterschrieb mit der Bunten einen Exklusivvertrag. Sie verpflichtete sich darin, das Gericht in einem abgedunkelten Wagen “durch die Tiefgarage” zu erreichen. Sie unterschrieb die Zusage, sich “abgeschirmt von anderen Pressevertretern” zu bewegen. Der Verlag übernimmt die Kosten, falls Kachelmann sie einklagen wird. Andere Zeuginnen der Anklage bekamen vergleichbare Arrangements.
Publik gemacht haben die Sauereien vor allem die Zeit und die Süddeutsche. Sie haben gezeigt, welche Stufe an Dekadenz manche Medien inzwischen erreicht haben. Es ist eine Stufe an Dekadenz – leider – mit einem Schweizer Opfer. Schöne Festtage übrigens noch.
Erschienen in der Weltwoche Nr. 51/2010
Schlagwörter:2010, Bunte, Burda, Focus, Jörg Kachelmann, Journalisten, Medien, Prozess, Schweiz