Gegen Propaganda, Deep Fakes und Polarisierung

24. November 2020 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Zehn Diskurs-Spielregeln im Umgang mit den Medien – nicht nur in Zeiten der Pandemie.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Vielleicht würde es einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied im Blick auf unsere Lernfähigkeit vor und nach Corona machen, wenn wir zumindest versuchten, im Alltag ein paar Diskurs-Spielregeln zu beherzigen. Dazu gehört, vermeintlich gesicherte Wahrheiten, gelegentlich sogar die „wissenschaftlichen“, in Frage zu stellen. Wir sollten uns zudem bewusst machen, wie raffiniert die Möglichkeiten von Meinungsmache und Verhaltensfernsteuerung inzwischen sind – dank konzertierter Propaganda und Deep Fakes, also besonders versierter Manipulation von Bildern und Videos. Zehn Diskurs-Spielregeln – nicht nur im Umgang mit Corona – könnten dabei hilfreich sein.

Erstens sollte jeder von uns sich die eigene selektive Wahrnehmung vergegenwärtigen, also den „Confirmation bias“ bekämpfen – den Fehler, Vorurteile bestätigt bekommen zu wollen.

Zweitens sollten wir alle auf Vielfalt unserer eigenen Informationsquellen achten. Früher mag es gereicht haben, als Linksliberaler die „Süddeutsche Zeitung“ und den Tagesspiegel zu lesen, und als Konservativer war man eben auf die „F.A.Z.“ oder die „Welt“ abonniert. Als Leser hat man zuverlässig mitgekriegt, was im jeweils anderen Lager gedacht wurde. Die heutige Polarisierung, der Abschied von einem „Journalismus, der nichts will“ (Johannes Gross), sind demgegenüber zweifelhafte Errungenschaften.

In Italien ist es ja seit Jahrzehnten so, dass gebildete Menschen mehrere Zeitungen lesen müssen, um zu erfahren, was in der Welt los ist. Keine bemüht sich um ein umfassendes Bild des Weltgeschehens. Als Umberto Eco die „Infantilisierung“ der Medien in seinem Land beklagte, hat er womöglich nicht nur die leicht bekleideten TV-Nachrichtensprecherinnen der Berlusconi-Sender gemeint, sondern auch diesen Nanny-Journalismus.

In einer digitalisierten Welt lässt sich damit allerdings leichter umgehen als in der alten, print-geprägten: Man braucht die eigene Mediendiät nur gezielt um das ergänzen, was einem gegen den Strich geht: Als Linker sollte man sich angewöhnen, gelegentlich mal in der „Neuen Zürcher Zeitung“ oder sogar bei „Tichys Einblick“ oder „Achgut“ nachzulesen. Und Liberal-Konservative stecken sich nicht schon deshalb mit einem Umverteilungs- und „Gerechtigkeits“-Virus an, weil sie ab und zu mit „taz“ oder „Freitag“ den Horizont erweitern.

Drittens gilt es, die Spaltpilze dingfest zu machen, sich also zu vergegenwärtigen wie sich an den rechten und linken Rändern der Gesellschaft Populisten gegenseitig hochschaukeln. Inzwischen hat sich auch der Journalismus sehr stark polarisiert und „italienisiert“: Der „Spiegel“ hat das jüngst stolz in einem Debattenbeitrag als neuen journalistischen Stil verkündet: „Die Zeit der Neutralität ist vorbei“. Offenbar hat der Verfasser noch nicht einmal gemerkt, dass er damit das Geschäft von PR-Agenturen besorgt. Statt als „Dienstleister“ ihr jeweiliges Publikum mit möglichst vielfältigen, möglichst geprüften Nachrichten zu versorgen, nehmen uns diese neuen „Journalisten“ als Gouvernanten an die Hand. Sie zeigen uns, wo es gesellschaftlich langgehen soll. Dabei möchten die meisten Menschen gewiss nicht informationell bevormundet werden.

Fünftens sollten wir in sozialen Medien nicht alles teilen, was die eigenen Vorurteile bestätigt. Heroisch wäre es, stattdessen Informationen insbesondere dann mit dem Share-Button weiterzuleiten, wenn man sie überprüft hat, weil sie einem gegen den Strich gegangen sind – und wenn sie trotzdem stimmen. In jedem Fall sollten wir innehalten, bevor wir den Like- oder Share-Button betätigen.

Sechstens sollten wir gezielt – und gerade dort, wo sich der Aufwand lohnt, also bei Influencern und Meinungsbildnern – die Filterblasen der anderen anpieksen, Luft herauslassen, sie manchmal mit Anregungen und kritischen Fragen aufpumpen. Dabei sollten wir versuchen, diejenigen zusammenzubringen, die ernsthaft und unvoreingenommen das Projekt der Aufklärung retten wollen.

Siebtens sollten wir mehr „Mut zur Erziehung“ haben. Nein, nicht gegenüber dem Rest der Welt – ihm sollten wir tunlichst nicht als Oberlehrer begegnen. Aber im Umgang mit Kindern und Jugendlichen gilt es, deren eigenes Denken und Nachdenken zu stimulieren. Dabei können Projekte wie Debating Societies, UN-Simulationen und andere Spiele helfen, bei denen Teilnehmer mal in die Rolle des Advocatus diaboli schlüpfen müssen. Die digitale Variante dazu sind Streitkultur-Foren und Debatten-Podcasts.

Achtens, neuntens und zehntens sollten wir skeptisch sein und eigenständig denken. Tagtäglich. Immer wieder. Statt sich im Schwarm einfach treiben zu lassen. Ein Aphorismus von Stanislav Lec kann dabei helfen: „Nur wer gegen den Strom schwimmt, kommt an die Quelle.“

 

Bei den zehn Diskurs-Spielregeln handelt es sich um den gekürzten Teil des Schlusskapitels von Stephan Russ-Mohls Buch „Streitlust und Streitkunst. Öffentlicher Diskurs als Essenz der Demokratie“, das am 24. November im Herbert von Halem Verlag erschienen ist. 

 

Erstveröffentlichung: tagesspiegel.de vom 23. November 2020

Bildquelle: pixabay.com

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