Covid-19 erreicht Algerien, während sich die Massen seit Monaten gegen das korrupte Regime erheben. Maßnahmen gegen die Pandemie sind unabdingbar. Doch wie in anderen autoritären Staaten bleiben Zweifel, ob sie auch Vorwand für staatliche Repressionen sind.
So sehr die Regierung Algerien abschottet: Die Corona-Pandemie macht auch an diesen Landesgrenzen nicht Halt. Wie anderswo gehen täglich die steigenden Zahlen Infizierter und Todesopfer durch die Medien. Nach den ersten Corona-Fällen in der Provinz Blida gelten begrenzte Ausgangsverbote in zunehmend mehr der 39 Verwaltungsbezirke, den sogenannten Wilayas.
Die offiziellen Statistiken veröffentlicht immer zuerst die Nachrichtenagentur Algérie Presse Service (APS). Als staatliche Einrichtung ist sie Sprachrohr der Regierung und sitzt damit an der Informationsquelle. Weitere APS-Artikel zu der Pandemie thematisieren etwa die Fortschritte algerischer Forscher im Kampf gegen Corona. Oder sie loben, wie die Regierung Krankenhäuser schnell und erfolgreich aufrüstet. Die Schwächen des überlasteten Gesundheitssystems blendet APS aus.
Die spitze Feder des Karikaturisten Dilem malt in der Tageszeitung Liberté ein anderes Bild: „Schrecklicher Mangel an Schutzkleidung in den Krankenhäusern“, schreibt Dilem über die Zeichnung eines Soldaten in voller Montur. Ein „Ouf“ der Erleichterung heißt es in dessen Sprechblase. Zum Glück sei er nicht in dem unterversorgten Gesundheitssystem, sondern im hochgerüsteten Sicherheitsapparat beschäftigt. Mit diesem Vergleich bringt es Dilem auf den Punkt: Maßnahmen gegen die Pandemie sind unabdingbar und dringend. Doch wie in anderen autoritären Systemen bleiben in Algerien Zweifel, ob das Regime sie dem eigenen Machterhalt unterordnet. In der aktuellen Situation in Algerien ist die Frage umso berechtigter.
Sorge um inhaftierte Regimekritiker
Seit über einem Jahr, genau genommen seit dem Tag, an dem Langzeitmachthaber Abdelaziz Bouteflika seine fünfte Kandidatur ankündigte, erheben sich Tausende gegen das korrupte Regime. Unter der algerischen Nationalflagge vereinen sich Demonstranten aller Schichten und Orte unabhängig von ihrer politischen Gesinnung. Sie erzwangen bereits Bouteflikas Rücktritt und Neuwahlen. Doch damit geben sie sich nicht zufrieden und gehen ohne Unterlass für einen Systemwandel auf die Straße.
Das Militärregime reagiert mit zunehmender Härte auf die durchweg friedlichen Kundgebungen; die Zahl Inhaftierter steigt und unter ihnen sind regierungskritische Journalisten. Anfang März wurde Khaled Drareni, Korrespondent von Reporter ohne Grenzen (RSF) und Gründer wie Leiter der Nachrichtenwebseite Casbah Tribune, festgenommen. Er ist eine Leitfigur für unabhängigen Journalismus und entsprechend war das Entsetzen um seine Verhaftung. Corona verschärft die Sorge um Drareni und andere festgenommene Demonstranten.
Auf dem engen Raum in Gruppenzellen verbreitet sich das Virus im Zweifel wie ein Lauffeuer. Forderungen, wenigstens Untersuchungshaft in Hausarrest umzuwandeln, fanden bei den zuständigen Entscheidungsträgern kein Gehör. Stattdessen spricht das Justizministerium gegenüber der Nachrichtenwebseite Tout sur l‘Algérie (TSA) von Vorsorgemaßnahmen in den Gefängnissen. Beispielsweise ginge es nach der Festnahme zunächst für zwei Wochen in Einzelhaft und erst nach einem negativen Corona-Test in die Gruppentrakte. Zudem seien Kontaktaufnahmen von außen, etwa von Angehörigen untersagt.
19 Jahre im Ausnahmezustand
Die Verhaftung von Drareni verheiße nichts Gutes für die wenigen unabhängigen Medien in Algerien, schreibt Reporter ohne Grenzen (RSF) in einer Pressemitteilung. „Sie spricht Bände über die Prioritäten der algerischen Regierung in der Corona-Krise“, sagt RSF-Geschäftsführer Christian Mihr und bestätigt, was viele befürchten.
Es ist nicht das erste Mal, dass das Regime einen nationalen Notstand als Vorwand für Repressionen nutzt. Im Jahr 1992 verhängte es einen Ausnahmezustand als Mittel im Kampf gegen Islamisten und stattete die Armee mit umfangreichen Hoheitsrechten aus. Die Maßnahme war berechtigt, doch nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde sie zu einem Vorwand. Angeblich um Terrorismus weiterhin abzuwenden, hielt das Regime für 19 Jahre an dem Ausnahmezustand fest, verhinderte so die Entwicklung demokratischer Strukturen und schränkte auch die Pressefreiheit ein. Erst 2011 wurde der Ausnahmezustand als Zugeständnis an die Demonstranten des Arabischen Frühlings aufgehoben.
Nun steht der Ausnahmezustand erneut zur Disposition – dieses Mal nicht im Kampf gegen Terrorismus, sondern im Kampf gegen das Virus. Zurecht kritisieren Regimegegner das Vorgehen von Regierung und Militär gegen die Demonstranten sowie den Umgang mit der Pandemie. Doch aus gutem Grund rufen auch unabhängige Medien wie das Online-Radio Radio M dazu auf, die Protestmärsche auszusetzen, bis die Pandemie besiegt ist.
Um Kritiker staatlichen Vorgehens zu denunzieren, bemüht das Regime ein altbekanntes Narrativ: Es handle sich um Unruhestifter und Infiltranten, die die öffentliche Meinung manipulieren wollen. So erschien etwa bei der Nachrichtenagentur APS ein Aufruf, Gerüchten und Lügen über die Pandemie nicht zu glauben. Die Bürger seien leicht empfänglich für Falschmeldungen in ausländischen und sozialen Medien, die angeblich nur ein Ziel verfolgten: das gesamte Land in einen Panikzustand zu versetzen. Derartige Meldungen sind Teil politischer Propaganda. Doch in der Tat haben soziale Netzwerke eine gespaltene Rolle.
Fake News verseuchen das Internet
Die sozialen Netzwerke und allen voran Facebook sind ein alternativer Kommunikationsraum, der sich bedingt staatlicher Kontrolle entzieht – und damit Glaubwürdigkeit genießt. Doch sie sind auch Nährboden für Fehlinformation. Weltweit breiten sich Fake News wie ein virtuelles Virus parallel zu Covid-19 aus und verseuchen das Internet. Das bestätigt etwa Cristina Tardáguila vom International Fact-Checking Network (IFCN), dessen Mitglieder mehr Falschmeldungen denn je aufdecken. Fact Checking, das heißt Berichterstattung systematisch auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, nimmt in zahlreichen Ländern zu, doch in Algerien ist es nicht flächendeckend etabliert.
So spalten sich die Facebook-Posts zu Corona in zwei Lager: das Lager der Verschwörungstheoretiker und Lügner einerseits sowie das der Aufklärer und Solidarischen andererseits. Beispielsweise berichten Ärzte in Facebook-Videos über die Situation in Krankenhäusern und rufen zu Vorsichtsmaßnahmen auf. Oder Middle East Eye (MEE) berichtet von Einwohnern der Hauptstadt, die Mundschutz-Masken nähen und öffentliche Orte desinfizieren.
MEE zufolge sei derartige Eigeninitiative nötig angesichts der Schwächen im System, angemessen auf die Pandemie zu reagieren. Mit Zensur versucht das Regime, unabhängige Berichterstattung über die Missstände einzudämmen. Es sollte besser die Missstände beheben.
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