Der getrübte Rückblick – Wenn in Jahresrückblicken drei Viertel der Welt vergessen wird

20. Februar 2023 • Aktuelle Beiträge, Internationales, Qualität & Ethik • von

Das Jahr 2022 wurde in der Öffentlichkeit als außergewöhnlich ereignisreich wahrgenommen. Medien griffen häufig den Begriff der „Zeitenwende“ auf, um das dominierende Thema des Jahres, den Ukraine-Krieg und seine Auswirkungen, zu beschreiben. Wenig bis keine Beachtung fanden dagegen zahlreiche Krisen und Katastrophen, die sich im Globalen Süden ereigneten. Während ca. 85 Prozent der Weltbevölkerung in den Ländern des Globalen Südens leben, entfielen auf sie in den hier untersuchten Jahresrückblicken im Durchschnitt lediglich etwa 11 Prozent des Gesamtumfangs der Beiträge.

Anzahl der Beiträge, in denen die jeweiligen Staaten im „ARD-Jahresrückblick“ erwähnt wurden / Quelle: Ludescher 2023

 

2022 als außergewöhnliches Jahr in der öffentlichen Wahrnehmung

Das Jahr 2022 war wie die beiden vorhergehenden „Corona-Jahre“ in der öffentlichen Wahrnehmung ein besonders ereignisreiches Jahr. Der Ukraine-Krieg und die damit verbundenen Folgen (etwa im Energiebereich) überschatteten alle anderen Themen in den Nachrichten. SPIEGEL.de bilanzierte in einem Artikel vom 30. Dezember über die eigene Berichterstattung: „Generell dominierte Russlands Krieg gegen die Ukraine das Nachrichtengeschehen wie kein anderes Thema.“ Der von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede am 27. Februar vor dem Deutschen Bundestag verwendete Begriff der „Zeitenwende“ wurde medial intensiv rezipiert und auch in den meisten Jahresrückblicken aufgegriffen. So notierte zum Beispiel SPIEGEL.de in dem bereits erwähnten Artikel: „2022 […] wird als Jahr der ,Zeitenwende‘ in die Chroniken eingehen.“

Dabei wechselte der Fokus der medialen Aufmerksamkeit relativ rasch von den eigentlichen militärischen Ereignissen in der Ukraine zu den Auswirkungen des Krieges auf Westeuropa, respektive Deutschland. Die steigende Inflation und insbesondere die Energiekrise infolge des Rückgangs der Gaslieferungen aus Russland rückten in der zweiten Jahreshälfte in das Zentrum der Wahrnehmung.

Weitgehend vergessen wurde dabei, dass der Krieg auch auf Regionen außerhalb des Globalen Nordens Auswirkungen hatte und dass sich im Globalen Süden zahlreiche Krisen und Katastrophen ereigneten, die in der öffentlichen Wahrnehmung im sogenannten Westen fast unbemerkt blieben.

Eine Reihe ignorierter und vernachlässigter Krisen und Katastrophen

Die Hilfsorganisation Care veröffentlichte im Januar 2023 ihren alljährlichen Bericht zu den zehn im vergangenen Jahr am stärksten vernachlässigten humanitären Krisen und Katastrophen. Zum ersten Mal befinden sich alle dort gelisteten Krisen auf dem afrikanischen Kontinent. Zu den vergessenen Krisen gehören beispielsweise die schlimmste Dürre seit 40 Jahren in Angola, Hunger in Malawi, wo mehr als ein Drittel der Kinder mangelernährt sind sowie der stets neu aufflammende Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik.

Abseits davon gab es im Jahr 2022 noch eine Reihe anderer Krisen und Katastrophen im Globalen Süden, die in den Nachrichten nicht oder kaum berücksichtigt wurden (Abb. 1). Weder die eskalierende Gewalt und humanitäre Krise in Haiti noch die politische Krise und der landesweite Notstand in Peru oder der Militärputsch in Burkina Faso fanden große Beachtung. Die Erklärung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass die Zahl der Malariatoten im Vorjahr bei 619.000 lag, wurde ebenso nur randständig wahrgenommen wie die „Jahrhundertflut“ in Pakistan, die 1.700 Menschenleben forderte und ca. 33 Millionen Personen obdachlos machte. Der Bürgerkrieg in der äthiopischen Region Tigray, wo seit Ende 2020 mittlerweile mehrere Hunderttausend Menschen starben und mindestens 2 Millionen Menschen vertrieben wurden, stand ebenfalls weit am Rand der Berichterstattung und damit auch des kollektiven Bewusstseins. Dies erscheint besonders bedauerlich, da das Wissen um ein geopolitisches Problem eine essentielle Voraussetzung für die Initiierung von politischen Entscheidungsprozessen zur Veränderung bzw. Verbesserung der Lage sein kann.

Abb. 1 Krisen, die im Jahr 2022 kaum mediale Aufmerksamkeit erhalten haben / Quelle: Ludescher, 2023

Zu den medial am stärksten vernachlässigten, sich täglich ereignenden, Katastrophen gehört nicht zuletzt „das größte lösbare Problem der Welt“. So bezeichnet das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) den globalen Hunger, da sowohl die Ressourcen als auch die technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen und vergleichsweise nur geringe finanzielle Mittel notwendig wären, um dieses Problem zu lösen. Laut Welternährungsbericht der UN stieg die Zahl der Hungernden auf etwa 828 Millionen Menschen, was aber medial kaum thematisiert wurde.

In der „Tagesschau“ beispielsweise wurde in der ersten Jahreshälfte 2022 über die britische Königsfamilie umfangreicher berichtet als über den globalen Hunger und über den Sport mehr als über den gesamten Globalen Süden.

Untersuchte Medien

Zum Jahresende werden die vergangenen Monate häufig auch in Medien rekapituliert und bilanziert. Jahresrückblicke eignen sich daher, um festzustellen, welche Themen das Nachrichtenjahr nachhaltig prägten und insbesondere zeigen sie, welche Ereignisse in der medial vermittelten kollektiven Erinnerungskultur hängen geblieben sind.

Für die vorliegende Untersuchung wurden 13 Jahresrückblicke ausgewertet (Abb. 2), die nach unterschiedlichen Faktoren, wie Mediengattung und Herkunftsland bzw. Verbreitungsgebiet, ausgewählt wurden: Sechs Medien stammen aus dem Bereich Print (Kronen Zeitung, View, Spiegel Chronik, stern Sonderheft, profil und TIME), bei fünf handelt es sich um Fernsehsendungen (ARD, ZDF [2x: „Markus Lanz“ und „Album 2022“], RTL und SAT.1), ein Medium stammt aus dem Bereich Radio (BR2 „radioWelt“) und eines aus dem Internet („F.A.Z. Podcast für Deutschland“). Geografisch sind zehn Medien in Deutschland zu verorten, zwei in Österreich und eines in den USA.

Starke Dominanz des Globalen Nordens

In allen ausgewerteten Jahresrückblicken zeigt sich dasselbe Muster der Beitragsverteilung (Abb. 2): Es gibt eine ausgesprochen starke Konzentration auf den Globalen Norden. Neben dem jeweiligen Ursprungsland des Mediums (Deutschland, Österreich, USA) treten vor allem noch die Ukraine und Russland in den Vordergrund. Daneben spielen andere Länder des sogenannten Westens eine Rolle sowie, bis zu einem gewissen Grad, Staaten der sogenannten MENA (Middle East & North Africa)-Region (hier wurden vor allem über die Proteste im Iran und die FIFA-Fußball-WM in Katar berichtet).

Abb. 2 Vergleich der geografischen Verteilungen der Beiträge in den untersuchten Jahresrückblicken (Angaben in Prozent) / Quelle: Ludescher, 2023

Die Dominanz des Globalen Nordens in den Medien ist außergewöhnlich hoch. Der Anteil der geografischen Orientierung der Beiträge am Globalen Norden lag in den untersuchten Medien im Durchschnitt bei 88,8 Prozent, d.h. auf den Globalen Süden entfielen im Durchschnitt lediglich 11,2 Prozent der zur Verfügung stehenden Seiten bzw. Sendezeit. Vor dem Hintergrund, dass ca. 85 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern des Globalen Südens leben, ergibt sich damit ein Beitragsschema mit einem negativ komplementären Verhältnis.

Pointiert gesagt: 15 Prozent der Weltbevölkerung genießen mehr als 85 Prozent der medialen Aufmerksamkeit, während 85 Prozent der Weltbevölkerung weniger als 15 Prozent der medialen Wahrnehmung erhalten.

Dramatische Ereignisse, die sich im Globalen Süden ereigneten, wurden in den Jahresrückblicken dagegen kaum aufgegriffen. Paradox erscheint zum Beispiel, wenn im stern-Sonderheft in einer Kolumne von der „Jahrhundertflut in Pakistan“ (S. 55) die Rede ist, sich die Publikation aber mit keinem einzigen Beitrag diesem Thema widmet. Auch die 180 Seiten starke „Spiegel Chronik 2022“ zitiert einen Betroffenen mit den Worten „Ich habe in meinem Leben noch nie so schwere Überschwemmungen wegen Regenfällen gesehen“ (S. 120), beschäftigt sich mit der Flutkatastrophe aber lediglich auf einer Drittel Seite (zum Vergleich: der Bericht über den öffentlich ausgetragenen Rechtsstreit zwischen den Hollywoodstars Johnny Depp und Amber Heard ist zwei Seiten lang, im stern-Sonderheft sogar vier). Im RTL-Jahresrückblick “2022! Menschen, Bilder, Emotionen” wurden zwar die Auswirkungen des Hurrikans Ian (in Florida/USA und Kuba) sowie des Hochwassers in Australien gezeigt, aber die „Jahrhundertflut“ in Pakistan mit keinem Wort erwähnt. Es stellt sich auch die Frage, wieso das einstündige ZDF-“Album 2022” in diesem Zusammenhang vom „schlimmste[n] Monsun seit Menschengedenken“ (Min. 37) sprach, der Bericht hierzu aber nur 25 Sekunden dauerte (zum Vergleich: ein folgender Beitrag über einen Ballett-Tanz auf dem Mailänder Domplatz war 35 Sekunden lang).

Die mediale Verdrängung der „Jahrhundertflut“ in Pakistan ist kein Ausnahmefall. Denn ebenso wurden in den Jahresrückblicken weder der Bürgerkrieg in Tigray mit seinen mittlerweile Hundertausenden Toten noch die um Millionen Betroffene gestiegene Zahl der Hungernden, behandelt bzw. diese Themen wurden, wenn überhaupt, lediglich in Nebensätzen erwähnt (in keinem einzigen der untersuchten Medien gab es einen Beitrag, der sich dezidiert mit der Situation in Tigray oder dem Hungerthema beschäftigte!).

Abb. 3 Thematische Verteilung der Sendezeit im ARD-Jahresrückblick 2022 / Quelle: Ludescher, 2023

Repräsentativ für die untersuchten Medien schauen wir uns den ARD-Jahresrückblick 2022 genauer an. Die Aufteilung des Sendungsschemas nach Themen (Abb. 3) zeigt, dass neben dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen (Energiekrise), vor allem die Corona-Pandemie, sportliche Ereignisse sowie die britische Queen eine Rolle spielten. Auf das Thema globaler Hunger entfiel im ARD-Jahresrückblick entgegen den dramatischen Entwicklungen und intensiven Aufrufen verschiedener Hilfsorganisationen lediglich ein Prozent der Sendezeit.

Es ist außerdem festzuhalten, dass der Globale Süden in der Regel in den Medien nicht nur kaum thematisiert wird, sondern auch, dass wenn Beiträge erscheinen, diese fast ausschließlich über negative Ereignisse berichten. Pointiert lässt sich zusammenfassen:

Es wird über den Globalen Süden sehr wenig berichtet und wenn über ihn berichtet wird, dann negativ. Das Fehlen von positiven Beispielen verringert aber die Rezeption des Globalen Südens im sogenannten Westen auf negativ gefärbte monoperspektivische Erzählungen.

Langzeitmarginalisierung des Globalen Südens

Insgesamt schließen sich die Ergebnisse nahtlos an diejenigen einer Langzeituntersuchung mit dem Titel Vergessene Welten und blinde Flecken an, in der unter anderem mittlerweile etwa 5.800 Ausgaben der Tagesschau aus den Jahren 2007-2022 ausgewertet wurden. Die Studie und ihre Ergänzungsanalysen konstatieren eine über Jahre hinweg konstant ausgeprägte Vernachlässigung des Globalen Südens und seiner Themen, die sich in den „Corona-Jahren“ 2020/21 und seit dem Ukraine-Krieg 2022 beispiellos zugespitzt hat.

 

Die vollständige Jahresrückblick-Analyse und die Ausgangsstudie Vergessene Welten und blinde Flecken über die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens, Videozusammenfassungen, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Poster-Wanderausstellung können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter www.ivr-heidelberg.de

Hier geht es zum Jahresrückblick 2021 Wenig Aufmerksamkeit für „das größte lösbare Problem der Welt“ und 2020 Vergessene Welten in der Corona-Pandemie

Bildquelle: Ladislaus Ludescher, 2023

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