Pennsylvania, kurz vor der Jahrhundertwende: Die Zeitung Pittsburgh Dispatch veröffentlicht den Artikel „What Girls are Good for“ – wofür Frauen gut sind. Dem Artikel nach nicht für allzu viel, vorrangig für den Haushalt und das Kinderkriegen. Kurz darauf erhält die Redaktion einen empörten Leserbrief. Die Verfasserin: Eine junge Frau namens Elizabeth Cochran. Ihr Temperament imponiert der Redaktion so sehr, dass sie ihr eine Stelle anbieten. Es ist der Beginn einer journalistischen Karriere, die die Medienwelt prägen sollte – besonders für Frauen.
Elizabeth Cochran bekommt in den folgenden Jahren direkt zwei neue Namen: Aus Cochran machte sie Cochrane, einfach, weil es ihr besser gefiel. Ihre Artikel schrieb sie unter dem Pseudonym Nellie Bly.

Nellie Bly
Quelle: H. J. Myers, photographer, Public domain, via Wikimedia Commons
Als Nellie Bly nahm sie sich bereits mit Anfang zwanzig Themen an, die für weibliche Journalistinnen der damaligen Zeit ungewöhnlich waren. Viele Zeitungen verfügten über sogenannte „women‘s pages“. Diese bestückten sie mit Themen, die als für Frauen interessant angesehen wurden. Meistens handelten diese Seiten von Haushalt, Garten und Kindern. Gesellschaftskritisches Berichten war Männerdomäne. Trotzdem drehten sich Blys erste Reportagen um berufstätige Frauen, zum Beispiel in der Stahlindustrie, und kritisierten deren Arbeitsbedingungen. Dafür erster Kritik ausgesetzt, wechselte sie nicht ihren Fokus, sondern gab ihre feste Anstellung beim Pittsburgh Dispatch für eine freie Mitarbeit auf. Als junge Reporterin reiste sie durch Mexiko und schickte Reportagen über die Lebensumstände der armen Bevölkerung und die Folgen der Korruption in Politik und Behörden an die Zeitung in der Heimat. Es dauerte nicht lange, bis sich die mexikanische Regierung an ihr störte und sie das Land verlassen muss.
Verdeckte Recherche in der Frauenpsychiatrie
Dennoch steht Bly erst am Anfang ihrer Karriere: 1887 geht sie nach New York und wird dort von Joseph Pulitzer bei der New York World eingestellt. Die World ist zu der Zeit eine der größten Tageszeitungen der USA – und verhilft Nellie Bly zu ihrem Sprung ins Blickfeld der Öffentlichkeit.
Mit einer Undercover-Berichterstattung aus der Frauenpsychiatrie Blackwell´s Island schafft sie eine Story, die sich wie eine Mischform aus Bericht und Tagebucheintrag liest. Sie erzählt, wie sie eine psychische Erkrankung vortäuscht und sich in die Einrichtung einweisen lässt. Sie erzählt von der Be- und Misshandlung der Patientinnen, deren Zustand sich zum Teil nach der Einweisung drastisch verschlechtert. Wer vorher nicht krank war, ist es nach dem Aufenthalt – den Eindruck erhält Bly bei ihren Beobachtungen. Die Reportage schlägt Wellen und zieht eine gerichtliche Untersuchung nach sich. Schließlich werden finanzielle Mittel bereitgestellt, um die Zustände in psychiatrischen Einrichtungen zu verbessern. Mit Ten Days in a Madhouse hat Bly nicht nur die Gesellschaft verändert, sie schuf gleichzeitig eines der ersten Beispiele für investigativen Journalismus.
Von da an ist Nellie Bly oft undercover unterwegs, mal als Prostituierte, mal als Patientin auf dem OP-Tisch. Immer wieder begibt sie sich in riskante Situationen, und erhält als Frau zum Teil Einblicke, die einem männlicher Reporter so vorenthalten bleiben würden. Danach berichtet sie treffsicher und unterhaltsam. Sie wird zur Vorreiterin einer ganzen Bewegung von Frauen: der sogenannten „Girl Stunt Reporters“.
Eine neue Art des Erzählens
Bei den „Girl Stunt Reporters“ handelte es sich um Frauen, die wie Bly häufig verdeckt recherchierten, um gesellschaftliche Missstände aufzudecken und Wandel zu bewirken. Damit begründeten sie einen Bereich, der heute gerne als die „Königsdisziplin“ des Journalismus bezeichnet wird: den Investigativjournalismus. Nicht nur die verdeckte Recherche stellte eine Neuheit dar, auch der Ton der Berichte unterschied sich vom Gewohnten. Die Artikel waren häufig humorvoll, aus der Ich-Perspektive geschrieben und behandelten tabuisierte Themen. Was aus heutiger Sicht teilweise sensationalistisch wirken mag, eröffnete damals neue Möglichkeiten im Storytelling, die die Aufmerksamkeit der Leser:innen bündelte. Die stilistischen Neuheiten waren eine frühe Basis für den New Journalism, eine Bezeichnung, die der Journalist Tom Wolfe in den Siebzigerjahren popularisierte.
Außerdem waren die Berichte der Journalistinnen bei Leser:innen beliebt und gaben den Reporterinnen eine Möglichkeit, sich in einer männerdominierten Medienwelt Gehör zu verschaffen. Gleichzeitig zeigen die oft gefährlichen Situationen, in die sie sich begaben, wie weit sie dafür gehen mussten. Außerdem waren zwar ihre Storys beliebt, nicht aber unbedingt die Journalistinnen selbst. Durch ihre extremen Recherchemethoden und wagemutigen Manöver, während einer Zeit, als eine Recherche bei regnerischem Wetter noch als „undamenhaft“ galt, verloren sie in Teilen der Gesellschaft trotz ihres Erfolges gleichzeitig an Respekt. Die Bezeichnung als „Girl Stunt Reporter“ macht dies deutlich und wurde häufig abwertend gebraucht. Es handelte sich nicht um Mädchen, sondern um – wenn auch teils sehr junge – erwachsene Frauen. Auch der Begriff „Stunt“ reduziert, was letztendlich ihre Tätigkeit war: Undercover-Journalismus, der nicht selten gesellschaftliche Missstände aufdeckte.
Helen Cusack schrieb 1888 unter dem Pseudonym Nell Nelson die Reihe City Slave Girls für die Chicago Times, in der sie die Arbeitsbedingungen und verschwindend niedrigen Löhne von Fabrikarbeiterinnen dokumentiert und kritisiert. Dafür schleuste sie sich selbst als Arbeiterin ein. Winifred Sweet berichtete 1890 als Annie Laurie über die Behandlung von Frauen in einem öffentlichen Krankenhaus in San Francisco. Ein Arzt, der Frauen körperlich misshandelte, wenn er sich als „hysterisch“ befand, wurde entlassen. Sweet hatte für ihre Story einen Kreislaufkollaps auf der Straße vorgetäuscht und hatte sich so als Patientin ins Krankenhaus einliefern lassen. Andere Frauen blieben in ihren Reportagen anonym und bis heute unbekannt. Ihre journalistischen Werke beeinflussten die Medienwelt jedoch unwiderruflich.
Mit Ten Days in a Madhouse trat Nellie Bly eine Bewegung los, die den Journalismus veränderte. Ihre Karriere war danach noch lange nicht beendet. Die ganze Geschichte von Bly kann man im Podcast „Frauensachen“ hören. Der Podcast wird von Studierenden der TU Dortmund produziert und unter anderem beim Campusradio eldoradio* ausgestrahlt. Die Autorin des Textes gehört zu den Produzent:innen von „Frauensachen“.
Schlagwörter:Investigativjournalismus, Nellie Bly, undercover