Warum guter Journalismus Empathie braucht

18. März 2019 • Ausbildung, Internationales, Qualität & Ethik • von

Fakten, Fakten, Fakten – darauf setzt guter Journalismus in der Berufspraxis. Jedoch erlebt jeder Journalist Momente, in denen Fakten allein nicht weiterhelfen. Denn im Journalismus geht es zuallererst um Menschen. Und der Umgang mit Menschen erfordert vor allem eines – emotionale Intelligenz.

Ein Student der Bournemouth University berichtet aus Kathmandu über das Erdbeben, das Nepal im Jahr 2015 verwüstet hat.

Schon mal versucht, einen zögerlichen Interviewpartner zu einer aussagekräftigen Stellungnahme zu bewegen? Oder mit Menschenmengen umzugehen, die ihre Dynamik jederzeit ändern können? Tatsächlich hängt gute Berichterstattung nicht allein von der reinen Informationsbeschaffung ab, sondern grundsätzlich auch davon, wie Journalisten eine Situation emotional wahrnehmen, verstehen und behandeln.

In der westlichen Welt galten Emotionen und Empathie lange Zeit für Journalisten und Journalismusforscher nicht unbedingt als positives und produktives Element in der Nachrichtenberichterstattung. Die Debatte drehte sich eher um Sensationslust und „billige Emotionen“ – bestenfalls sprach man Journalisten ein „Gespür für Nachrichten“ zu oder das richtige „Bauchgefühl“ beim Fällen von Entscheidungen. Manche fragten auch, ob Journalisten unter bestimmten Umständen eine mitfühlende Haltung einnehmen dürfen. Martin Bell, BBC-Journalist während des Jugoslawien-Krieges in den 90er Jahren, schlug in seinem Journalism of Attachment vor, eine moralische Haltung für die Opfer von Kriegen und Konflikten einzunehmen. Dies blieb jedoch eine Außenseiterposition im Diskurs über Journalismus.

Der US-amerikanische Professor Michael Schudson erklärte Journalismus für „cool im Ton, und eher nicht emotional“ (2001: 150), und der Brite Dennis McQuail sprach sich für einen unparteiischen Journalismus aus, der „Werturteile, emotionale Sprache oder Bilder meidet“ (2010: 357). Und immer wieder betonten Journalisten Objektivität und Distanz als wichtige Rollenbausteine im westlichen Journalismus. Das Primat der sachlichen Debatte ließ wenig Raum für Emotionen – Emotionen galten als Kommerz.

Seit etwa einem Jahrzehnt jedoch wird dieses Szenario grundlegend erschüttert. Emotionen gelten nun als unabdingbare Verbindung zu Lesern und Zuschauern. Sie stehen im Fokus von Praktikern und selbst denen, die normativ über Journalismus forschen und sich mit mühsamen Grenzziehungen im Journalismus befassen. Beispielhaft hierfür ist Michael Schudsons „soziale Empathie“ – denn im Journalismus bauen wir auf Mitgefühl und Verständnis davon, „wie Menschen ihr Leben anders erleben als wir“.

Vielleicht ist es daher an der Zeit zu fragen: Können Emotionen und Empathie positiv im Journalismus und in der journalistischen Arbeitspraxis wirken?

Emotionen und Empathie in der journalistischen Praxis

Es können vier Dimensionen identifiziert werden, in denen Emotionen und Empathie für die journalistische Arbeitspraxis unerlässlich sind. Diese vereinen Aspekte der Neurobiologie, der moralischen Entscheidungsfindung, der Professionalität und der sich verändernden Rolle des Journalismus in einer Gesellschaft, die eine offenere Praxis der Emotionen fördert und fordert. Bevor ich auf die Konsequenzen für die journalistische Berufsausbildung  eingehe, schauen wir uns zunächst erst einmal die vier Aspekte im Einzelnen an.

Emotionen sind grundlegender Teil unseres biologisch-kognitiven Wahrnehmungssystems – und prägen damit unser Weltbild. Wir verstehen die Welt sowohl kognitiv als auch emotional. Wir denken und fühlen Themen. Unsere Art der Realitätsgestaltung zeichnet sich daher durch das Zusammenspiel von Erkenntnissen, Emotionen, Wahrnehmungen und Erinnerungen aus. Ein Beispiel: Viele Wissenschaftler und Experten versuchten zu erklären, warum Großbritannien für den Brexit gestimmt hat – aber rational-politische Erklärungen scheitern, wenn sie nicht gleichzeitig integrieren, „wie Wähler sich fühlen“ („How Voters Feel“, Stephen Coleman). Empathie ist hier besonders wichtig als nonverbale Form des Verstehens des mentalen und emotionalen Zustandes anderer.

Dies gilt beispielsweise besonders für den indischen Fernseh-Journalismus. Dieser ist stark auf Emotionen ausgerichtet – kein Wunder bei der Konkurrenz von rund 400 Nachrichtenkanälen, die rund um die Uhr senden. Ein junger Moderator von „Headlines Today“ (inzwischen „Indian Today“) sprach davon, dass Nachrichtenreporter „in der Lage sein müssen, zu verstehen, was eine Person durchmacht“, um danach deren Geschichte erzählen zu können, sonst „glaube ich nicht, dass auch ein Zuschauer die Emotionen der Person und dem, was sie durchmacht, verstehen kann“. Hier vermischen sich das Verständnis von journalistischen Erzählformen und Zuschauerwünschen.

Ebenso hilft Empathie bei der Überprüfung von Aussagen – denn richtig zu beurteilen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt, ist nicht immer einfach. Ein Gefühl für das Lesen von Menschen (und deren Emotionen) hilft hier weiter.

Der Moderator und Journalist Rahul Kanwal (links) debattiert mit einem Politiker während eines Interviews auf “Indian Today”.

Empathie wird damit zu etwas, was wir, um es mit Bourdieus Worten zu sagen, „emotionales Kapital“ nennen können. Das bedeutet, dass Journalisten, die über ein höheres Maß an emotionalem Kapital verfügen (positiv verstanden als emotionale Intelligenz), in der Lage sind, Journalismus stärker zu beeinflussen als Reporter ohne diese Fähigkeit. Ein britischer Nachrichtenchef übersetzt das in die Praxis: Er habe an „Hunderte von Türen von Menschen geklopft, die jemanden verloren haben… Wenn du wirklich sensibel bist und dich wie ein Mensch mit Mitgefühl verhältst anstatt wie ein Roboter, der nur ein Foto haben möchte, dann wirst du eher das Foto bekommen.“ Daher könnten Journalisten mit Empathie und emotionalem Kapital überdurchschnittlich erfolgreich darin sein, mit Informanten und Interviewpartnern kooperatives Verhalten zu etablieren. Denn sie sind in der Lage, subtilere nonverbale Zeichen und Formen von Information zu erkennen.

Kurz gesagt: Empathie als journalistische Arbeitsressource prägt die professionelle und ethische Entscheidungsfindung in viel stärkerem Maße als bisher angenommen.

Der Beitrag von Empathie und Emotionen zum Journalismus endet jedoch nicht bei der Neurobiologie. Auch bei der moralischen Entscheidungsfindung spielen Emotionen eine wichtige Rolle. Menschen müssen fundierte Urteile über Menschen in bestimmten Situationen fällen. Die australische Professorin Renée Jeffery schaute genauer in die Geschichte der schottischen Aufklärung und entdeckte, dass bereits David Hume die Rolle der Emotionen für die Urteilsfähigkeit des menschlichen Geistes betonte. Ethisches Handeln ist daher emotional motiviert und spiegelt ein „angeborenes Gefühl von Recht und Unrecht“ wider. In der journalistischen Praxis kommt es beispielsweise bei Nachrichten über Trumps Sexismus und Rassismus zum Vorschein – bleiben Journalisten hier unparteiisch, folgen sie zwar streng den professionellen Prinzipien, jedoch tun sie dem Journalismus keinen Gefallen. Denn nicht immer gibt es zwei Seiten einer Geschichte.

TV-Journalisten müssen auf Knopfdruck die „richtige“ Emotion darstellen

Die Unparteilichkeit verliert ihre Daseinsberechtigung, wenn die Berichterstattung über den Klimawandel sowohl Klimawissenschaftlern als auch Skeptikern gleichermaßen Gewicht verleiht. Neutralität und Unparteilichkeit sind klassische Prinzipien des Journalismus in der westlichen Hemisphäre – jedoch werden sie hier dysfunktional. Ein Journalist, der seine „innere Moral“ nach Hume nicht durchsetzt – wonach Emotionen Richtlinien für Urteile geben – wird zu einem moralisch eher fragwürdigen Wesen. Und genau in diesem Bereich versagen bislang auch künstliche Intelligenzen (oder der algorithmische Journalismus) – denn eine Sequenz logischer Entscheidungen konstituiert nicht unbedingt ein gesundes Urteil.

Dieser Aspekt betrifft auch die Fähigkeit zur emotionalen Regulierung. Zu verstehen, wie Emotionen das eigene professionelle Urteilsvermögen beeinflussen ist relevant, um Journalismus jenseits der eigenen subjektiven Sicht zu liefern. Die Psychologin Ziva Kunda zeigt, wie Affekt mit Argumentation und Glauben interagiert. Ihr Konzept des „motivierten Räsonierens“ (motivated reasoning) beschreibt, wie Menschen (und damit potenzielle Journalisten) sich trotz aller Beweise an falsche Überzeugungen klammern können, um schlicht und einfach unbequeme kognitive Differenzen zu reduzieren. Wenn Journalisten also weitgehend autonom und auf sich selbst gestellt arbeiten, kann ihr emotionaler Zustand die Berichterstattung durchaus beeinflussen.

Drittens sind Emotionen wichtig, da vor allem in Fernsehen und Radio journalistische Präsentationsformen durch subtile Regeln der Emotionsdarstellung bestimmt werden. So unterscheidet sich beispielsweise der nüchtern-„coole“ Moderations-Stil der britischen „BBC News at Ten“ erheblich vom lauten und farbigen Marktschreier-Stil vieler indischer Nachrichtenkanäle. Journalisten praktizieren hier emotionale Arbeit, denn ähnlich wie Theaterschauspieler oder Flugbegleiter müssen sie quasi auf Knopfdruck die „richtige“ Emotion darstellen können. Diese impliziten Darstellungsregeln für Emotionen unterscheiden sich kulturell und auch je nach Medium. Sie markieren damit die ungeschriebenen Grenzen des journalistischen Berufsstandes in verschiedenen Journalistenkulturen. Journalisten müssen diese verinnerlicht haben, um „professionell“ zu erscheinen.

Moderator Huw Edwards während der BBC-Nachrichtensendung “News at 10”

Viertens verändert der Wandel hin zu einer eher allgemein „affektiveren Gesellschaft“ (affective society; O Clough 2009) auch dessen Rolle von Journalismus grundlegend. Wenn nun bewusst aus kommerziellen Gründen über Publikumswünsche nachgedacht wird, wenn populistische Führer die Öffentlichkeit für sich manipulieren durch das Ausnutzen der Dynamik kollektiver Emotionen – dann muss auch Journalismus als gesellschaftliches System darauf reagieren. Der Qualitätsjournalismus sucht nun nach neuen Wegen jenseits kognitiv ausgerichteter Informationsverbreitung und umgekehrter Pyramidenmodelle.

Emotionen und Empathie im Journalismus könnten da eine Richtung sein, denn sie sind fester Teil des Geschichtenerzählens. Es ist ein guter Zeitpunkt, um die emotionale Komponente der Nachrichtenberichterstattung anzuerkennen. Dieser Wandel bringt neue Herausforderungen und Fragen mit sich. Können wir als Journalisten tatsächlich emotionale Kompetenz lernen? Können wir es systematisch lernen? Besteht überhaupt ein dringender Bedarf, sich dieses Wissen anzueignen, um ein „guter Journalist“ zu sein?

Bei der Frage, wie Journalismus sich wandeln könnte, gehen wir zurück zum Thema Empathie. Empathie ist ein Prozess, bei dem Verständnis erreicht wird, indem man sich sowohl auf Emotionen als auch auf Kognition verlässt, was sich wiederum in Verhalten ausdrückt. Forscher der niederländischen Universitäten Groningen und Enschede haben untersucht, wie Empathiemerkmale in der professionellen Kommunikation trainiert werden können. Melissa Oudshoorn-Fuller und ihre Kollegen schlagen dazu eine Vielzahl von Mitteln vor – zum Beispiel schauen sie auf die Erkennung von Körpersprache und nonverbalen Hinweisen, Selbstbeobachtung oder die Entwicklung einer angemessenen Reaktion auf emotionale Informationen. Das wurde bislang im Journalismus selbst nur wenig thematisiert.

Journalistik-Studierende zeigten überraschend große Sensibilität 

Wie wichtig Empathie und Emotionen im professionellen Journalismus zukünftig sein könnten, lässt sich europaweit an der Nachwuchsausbildung im Journalismus beobachten. Die Universität Bournemouth in Südengland ist ein führendes Beispiel. Seit rund sieben Jahren bietet die Universität Ausbildungskurse für Studierende in ganz Großbritannien an. Sie steht in engem Kontakt mit dem Londoner Dart Center for Journalism and Trauma, das intensiv an Strategien zur Traumavorsorge bei Journalisten arbeitet. Die Universität leitet Journalistik-Studierende in Kursen zu sensibler Katastrophenberichterstattung an. Per simuliertem Rollenspiel erhalten die Studenten ein kurzes Briefing zu einer Katastrophe und tauchen dann entweder in ein fiktives Hurrican-Katrina-Szenario oder einen Terroranschlag in einem Fußballstadion ein. Die Übungen sind „ziemlich kurz – das Rollenspiel dauert jeweils nur 10-20 Minuten, in denen die Studierenden durch eigenes Agieren lernen“, sagt Kursleiter und Journalistik-Professor Stephen Jukes von der Universität Bournemouth.

In einem weiteren Projekt schickte die Uni Journalistenschüler in ein reales Katastrophenszenario – das von einem Erdbeben zerstörte Nepal. Junge Reporter aus Großbritannien, Nepal und Indien berichteten von einer Basis in Kathmandu aus über die längerfristigen Folgen des Erdbebens im Jahr 2015. Die Organisatoren Chindu Sreedharan und Einar Thorsen staunten über die Arbeit der Nachwuchsjournalisten: Diese zeigten überraschend große Sensibilität im Umgang mit Überlebenden und entwickelten dadurch ihre Fähigkeiten weiter, auf emotionale Erfahrungen von sich selbst und anderen zu reagieren. Infolgedessen verlor nicht nur die Kritik am oberflächlichen und unsensiblen „Fallschirmjournalismus“ westlicher Medien an Fahrtwind, auch viele Erdbeben-Opfer fühlten sich endlich ernstgenommen und von der Außenwelt gehört. Die jungen Reporter folgten dem Prinzip des „Lösungsjournalismus“ (solution journalism) – hier dient Journalismus dazu, soziale Probleme aufzuzeigen oder gar zu lösen.

Ein Student der Bournemouth University spricht mit Einheimischen in Kathmandu.

Diese Projekte fördern die emotionale Kompetenz zukünftiger Journalisten auf hohem Niveau. Die Studenten fühlen sich herausgefordert und sind begeistert und berührt zugleich. Opfer von Traumata und Gewalt sensibel zu befragen – Menschen  mit marginalisierten Stimmen, schutzbedürftige Personen – erscheint zunehmend als eine Kernkompetenz in der journalistischen Ethik und den Standards der Berufspraxis.

Die jungen Reporter aus Bournemouth haben erkannt, wie Sensibilität und persönliches emotionales Bewusstsein geschult werden. „Es geht vor allem um emotionale Kompetenz“, sagt Jukes, und die ist nötig beim Umgang mit Menschen im Journalismus. Der ehemalige Reuters-Journalist bestätigt: „Wenn man nicht empathisch ist, bekommt man die Geschichte sowieso nicht“.

Die innovativen Ideen der Universität Bournemouth finden sich inzwischen auch bei anderen Universitäten, jedoch sind sie bei etablierten britischen Journalistenausbildern wie dem NCTJ (National Council for the Training of Journalists) und dem BJTC (Broadcast Journalism Training Council) bislang ohne große Resonanz geblieben. Jukes bleibt optimistisch: „Eine einfühlsam-empathische Berichterstattung ist heute aufgrund der drastischen technologischen Veränderungen noch wichtiger als früher. Wir leben in einer Welt voller Bilder im Internet, und die geopolitischen Bedingungen sind geprägt von Migrantenwellen und schrecklichen Bürgerkriegen.“

Die Zukunft des Journalismus dreht sich nicht mehr allein um das korrekte Sammeln von Fakten, das Meistern von neuen Technologien oder dem gegenwärtig populären Datenjournalismus. Die Ausbildung emotionaler Intelligenz und Kompetenz erscheinen als Kernkompetenzen im journalistischen Rollenverständnis. Für kommende Generationen von Journalisten könntenEmpathie, emotionale Intelligenz und vielleicht sogar Mitgefühl zum festen Bestandteil des Lehrplans werden.

 

Literatur:

Bell, M. (1998). The journalism of attachment. In M. Kieran (Ed.), Media Ethics (pp. 15-22). London & New York: Routledge.

Clough, P. T., & O’Malley Halley, J. (Eds.). (2007). The Affective Turn. Theorizing the Social. Durham: Duke UP.

McQuail, D. (2010). McQuail’s Mass Communication Theory (6 ed.). Los Angeles & London: Sage.

Schudson, M. (2001). The objectivity norm in American journalism. [Article]. Journalism, 2(2), 149-170.

 

Dieser Beitrag ist auch auf der französischen EJO-Seite erschienen.

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