Auf der Sitzung der Ressortleiter und Blattmacher war die Meinung schnell gemacht. “Dazu machen wir fünf Seiten”, entschied man auf den Redaktionen von Neuer Zürcher Zeitung, Aargauer Zeitung, Tages-Anzeiger und Blick.
Auf Redaktionen wird die Welt in Seitenzahlen strukturiert. Zu einem Großereignis macht man zwei Seiten, nämlich den Aufmacher auf der Front und eine Seite im Blatt. Ein Großereignis kann etwa die Abwahl eines Parteipräsidenten sein.
Zu einem großen Großereignis macht man drei Seiten, nämlich den Aufmacher auf der Front und eine Doppelseite im Blatt. Ein großes Großereignis kann etwa die Krise des Euro sein.
Zu einem gewaltig großen Großereignis macht man fünf Seiten, nämlich den Aufmacher auf der Front und zwei Doppelseiten im Blatt. Ein gewaltig großes Großereignis war vergangene Woche der Tod Osama Bin Ladens. „Dazu machen wir fünf Seiten“, entschied man auf den Redaktionen von Neuer Zürcher Zeitung, Aargauer Zeitung, Tages-Anzeiger und Blick. In dieselbe Kategorie gehörte das Erdbeben in Japan im März.
Dann gibt es noch den Ausnahmefall des gigantisch großen Großereignisses. In diesem Fall macht man sieben bis neun Seiten. Das ist selten, kommt aber vor. Beispiele sind der Swissair-Absturz bei Halifax, der Anschlag auf das World Trade Center und der Golfkrieg.
Wenn man sich auf der Redaktion für fünf Seiten entschieden hat wie bei Osama Bin Laden, dann muss man diese fünf Seiten nur noch füllen. Das ist für Profis keine Kunst. Man füllt eine Seite mit dem „Wie es geschah“. Eine zweite Seite schreibt man zu al-Qaida und ihrer Nachfolgefrage. Eine dritte Seite dreht sich um US-Präsident Barack Obama. Eine vierte Seite beleuchtet die Rolle Pakistans. Eine fünfte Seite bringt Reaktionen und ein Interview mit einem Terrorexperten. Irgendwo muss man dann nur noch den Kommentar unterbringen.
Wenn das Konzept steht, beginnt die große Stunde der Lehnstuhlreporter. Sie können auf der Zentralredaktion oder in Korrespondentenbüros sitzen. Die Lehnstuhlreporter suchen nun aus allerlei indirekten Quellen ihr Material zusammen und schreiben dann, als wären sie dabei gewesen.
Bis etwa ins Jahr 2000 war dies das Erfolgsmodell des Journalismus. Die Lehnstuhlreporter nutzten Material, das dem breiten Publikum verwehrt war. Das breite Publikum hatte keine Nachrichtenagenturen wie AP, SDA oder AFP abonniert. Das breite Publikum hatte keinen Zugriff auf Medienmitteilungen, behördliche Statements und Briefings. Darum konnten die privilegierten Lehnstuhlreporter so tun, als wären sie dabei gewesen.
Rund um Osama Bin Laden wird deutlich, wie dramatisch sich die Medienwelt verändert hat. Konkret an meinem Beispiel: Nachdem ich am Montag von der Osama-Story erfahren hatte, verbrachte ich einige Stunden im Internet. Danach wusste ich alles über das „Wie es geschah“. Ich wusste alles über al-Qaida und ihre Nachfolgefrage, alles über den US-Präsidenten und alles über die Rolle Pakistans. Ich hatte im Netz auch all die Reaktionen, Interviews mit Terrorexperten und Kommentare gelesen.
Ich war ein recherchierender Journalist. Zehntausende taten dasselbe wie ich.
Am nächsten Morgen lasen wir die Zeitungen. Auf den fünf Seiten, die dem gewaltig großen Großereignis zugeteilt waren, lasen wir genau das, was wir schon wussten. Oft erkannten wir die Quellen der Lehnstuhlreporter eins zu eins wieder.
Der Unterschied zwischen uns Lesern und den Journalisten ist hauchdünn geworden. Leser und Journalisten nutzen heute exakt dieselben Quellen. Am Abend sind wir Leser darum glänzend informiert. Doch die Zeitung erscheint erst am Morgen.
Erstveröffentlichung: Weltwoche Nr. 18/2011
Schlagwörter:Aufmacher, Großereignis, Internet, Journalist, Leser, Osama Bin Laden, Quellen, Recherche, Zeitung