“Nicht nur über die Menschen im Moment der Krise berichten”

9. Dezember 2021 • Aktuelle Beiträge, Ausbildung, Internationales • von

Berichterstattung über Migration: Eine Analyse zeigt auf, was Praktiker von der Journalistenausbildung erwarten. 

Weltweit sind so viele Menschen wie nie zuvor auf der Flucht: Laut dem von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) betriebenen Migration Data Portal gab es im Jahr 2020 weltweit über 280 Millionen Migranten und Flüchtlinge. Im Jahr 1990 waren es noch 153 Millionen Menschen. Migration und Flucht sind daher wichtige Themen für den Journalismus rund um den Globus. Doch was erwarten Journalistinnen und Journalisten, die Erfahrungen in der Migrationsberichterstattung haben, von der journalistischen Ausbildung? Eine aktuelle Analyse gibt Aufschluss.

Im Frühjahr 2021 wurden dafür im Rahmen des EU-geförderten Projekts „NEWSREEL2 – New Teaching Fields for the Next Generation of Journalists“ vier Medienschaffende aus Deutschland, Portugal, Tschechien und Ungarn befragt, die Erfahrungen in der Berichterstattung über Migration und Vertreibung aus einem internationalen Blickwinkel haben.

Die Befragten wiesen auf mehrere Defizite in der internationalen Berichterstattung über Migration und Flucht hin, die eine stärkere Berücksichtigung dieses Themas in der Journalistenausbildung erforderlich machen. Sie bemängeln eine eher elitenzentrierte Sichtweise, die sich zu sehr auf Politiker und Experten konzentriere, anstatt Migranten und Flüchtlingen selbst eine Stimme zu geben. Zudem kritisieren sie den Fokus auf Krisen – statt einer zyklischen Aufmerksamkeit wünschen sie sich eine dauerhafte Berichterstattung und langfristige Perspektiven. „Für mich sind die Geschichten wichtig und interessant, die einen längeren Zeitraum abdecken und nicht nur über die Menschen im Moment der Krise berichten“, sagt Tomáš Lindner, Redakteur bei der tschechischen Wochenzeitung Respekt.

„Migration ist ein Phänomen, das nicht aufhören wird“, betont Catarina Santos von der portugiesischen Online-Zeitung Observador – und trotzdem gebe es in den meisten Redaktionen keinen Journalisten, der ausschließlich mit der Berichterstattung über Migration beauftragt sei und damit dem Thema die Aufmerksamkeit schenken würde, die es verdient habe. Die Journalistenausbildung wirkt sich zwar weniger auf die Ressourcen von Redaktionen aus, kann aber doch für die Berichterstattung über Migration und Vertreibung sensibilisieren.

Die Bedeutung einer korrekten Terminologie

Es ist bezeichnend, dass keiner der Befragten während seiner beruflichen Laufbahn eine spezielle Ausbildung in diesem Bereich erhalten hat. Sie stimmten zwar zu, dass einige Fähigkeiten nicht in einem Kurs „erlernt“ werden könnten und vor Ort entwickelt werden müssten, wiesen aber darauf hin, dass bei der Berichterstattung über Migration und Flucht Themen wie Berufsethik sowie politisches, rechtliches und geografisches Hintergrundwissen für die Ausbildung unerlässlich seien.

Um künftige oder derzeitige Journalisten auf die Berichterstattung vor Ort vorzubereiten, sei es insbesondere wichtig, ihnen die komplexen rechtlichen Rahmenbedingungen der globalen Migranten- und Flüchtlingspolitik zu vermitteln. Dazu gehöre auch die Verwendung der korrekten Terminologie. Begriffe wie Flucht und Migration, Migranten oder Flüchtlinge sollten dabei nicht als Synonyme verwendet werden. Eine grundsätzliche Unterscheidung: Flüchtlinge sind gezwungen, ihre Heimat aufgrund von Verfolgung zu verlassen, während Migranten freiwillig gehen – was aber nicht bedeutet, dass sie keine guten Gründe dafür haben.

Unsere Interviewpartner sprachen auch von Rollenkonflikten, die bei der Berichterstattung über Flucht und Migration entstehen können. Journalisten sähen sich oft als neutrale Beobachter. Dieses Selbstbild könnte in Frage gestellt werden, wenn sie von den Menschen, über die sie berichten, um Geld oder andere Unterstützung gebeten werden. „Das ist eine völlig verständliche Überlebensstrategie von ihnen. Aber meiner Meinung nach muss man das wirklich ablehnen“, meint Eszter Neuberger vom ungarischen Nachrichtenportal 444.hu.

Umgang mit Trauma

Obwohl solche Situationen bei jeglicher Berichterstattung über Menschen in Not auftreten können, sei es wichtig, diese ethisch schwierigen Situationen in der Ausbildung zur Migrationsberichterstattung zu berücksichtigen. Catarina Santos empfiehlt Journalisten, gleich zu Beginn eines Interviews mit einem Migranten oder Flüchtling ihre Rolle transparent zu machen und sofort auf die Hoffnungen und Erwartungen einzugehen, die diese Menschen in Bezug auf Unterstützung haben könnten. Auch Julia Amberger, eine deutsche freie Journalistin, schlägt vor, klar zu kommunizieren, welche Art von Unterstützung man anbieten könne – wenn überhaupt sei das die folgende: „Ich kann Aufmerksamkeit für euren Fall schaffen, aber ich kann ihn nicht lösen.“

Der Umgang mit traumatisierten Gesprächspartnern ist ein weiteres Thema, das in die Ausbildung integriert werden könnte. „Man braucht einfach viel Einfühlungsvermögen. Und ich glaube, das kann man nicht wirklich lernen, aber wenn man sich in einem Seminar mit der psychologischen Situation dieser Menschen befasst, hilft das, Situationen besser zu verstehen“, sagt Julia Amberger, die vorschlägt, zu diesem Zweck einen Psychologen den Unterricht einzuladen.

Bei der Berichterstattung über Migration und Flucht spielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und große internationale zwischenstaatliche Organisationen eine wichtige Rolle. Sie dienen als Informationsquellen und Agenda-Setter und öffnen auch Türen zu für die Berichterstattung interessanten Orten wie Flüchtlingslagern. Dies kann jedoch dazu führen, dass sich Journalisten zu sehr auf die Unterstützung dieser Organisationen verlassen und deren Framing übernehmen, anstatt sie kritisch zu begleiten. Dies gilt umso mehr, wenn die Reporter nur für einige Tage oder Wochen in fremde Länder geschickt werden, die sie kaum kennen, und dabei auf die Unterstützung dieser Akteure angewiesen sind.

Von NGOs oder Stiftungen organisierte Pressereisen sind eine willkommene Gelegenheit, um in Zeiten schrumpfender Redaktionsbudgets Reisen zu finanzieren. Unsere Interviewpartner beschrieben solche Reisen und die Abhängigkeit von Organisationen jedoch als zweischneidiges Schwert und rieten dazu, nach dem Ende der offiziellen Reise noch einige Tage zu bleiben, um auf eigene Faust zu recherchieren und alternative Sichtweisen einzuholen. Statt sich auf Organisationen zu verlassen, empfiehlt Julia Amberger, mit lokalen Journalisten zusammenzuarbeiten und bei Einheimischen zu wohnen, zum Beispiel in einer AirBnB-Unterkunft. Solche Begegnungen würden ihr helfen zu reflektieren und zu verstehen, was sie vor Ort erlebt. Ratschläge dieser Art könnten auch in die Journalistenausbildung integriert werden. Eszter Neuberger aus Ungarn schlägt zudem vor, in der Ausbildung auch auf Finanzierungsmöglichkeiten für die Berichterstattung aus dem Ausland hinzuweisen.

 

Die Interviews sind Teil des Forschungsberichts, der im Rahmen des EU-geförderten Projekts „NEWSREEL2 – New Teaching Fields for the Next Generation of Journalists“ erstellt wurde. Unter Federführung des Erich-Brost-Instituts hat ein Netzwerk von Wissenschaftlern aus Deutschland, Portugal, Rumänien, Tschechien und Ungarn Journalisten zu Innovationen im Journalismus und in der Journalistenausbildung befragt. Weitere Analysen und Interviews beschäftigen sich mit Storytelling in sozialen Medien, grafischem Journalismus, Fact-Checking und Entlarvung von Desinformation, dem Einsatz von künstlicher Intelligenz und Sprachassistenten im Journalismus, sowie der Rolle der Medien in der zeitgenössischen digitalen Demokratie. In den kommenden Jahren will das Forscherteam basierend auf den Ergebnissen unter anderem E-Learning-Materialien zu den verschiedenen journalistischen Feldern entwickeln.

Zum vollständigen Forschungsbericht geht es hier: https://newsreel.pte.hu/research_reports

 

Bildquelle: pixabay.com

 

 

 

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