Zentren, Peripherien und die Digitalisierung

11. Dezember 2018 • Digitales, Qualität & Ethik • von

Rund 1400 europäische Kommunikations- und Medienforscher vereinten sich kürzlich zum Mammutkongress rund um das Thema „Zentren und Peripherien“. Eingeladen hatte deren Fachgesellschaft, die European Communication Research and Education Association (ECREA), und zwar nach Lugano und damit erstmalig in die Schweiz. 

Bemerkenswert war zunächst, dass ausschließlich weibliche Keynote-Speaker präsentiert wurden – im weithin männerdominierten italienischen Sprachraum eine kleine Sensation, denn auch im Tessin gibt es noch viele Podien ohne weibliche Stimme. Leider setzte sich jedoch nur eine der Auserkorenen mit dem Tagungsthema ernsthaft auseinander: José van Dijck (Universität Utrecht) analysierte die „Geopolitik“ der großen Plattform-Betreiber. In der westlichen Welt sind die „Big Five“ bekanntlich Alphabet (Google und Youtube), Amazon, Apple, Facebook und Microsoft. Van Dijck ließ keinen Zweifel daran, dass sich die Machtzentren der Netzwelt auf die USA und zunehmend China verteilen. Denn dort gibt es mit Baidu, Tencent & Co ebenfalls gigantische Betreiber von Suchmaschinen, sozialen Netzwerken und E-Commerce. Europa drohe zwischen den beiden Machtblöcken zerrieben, zumindest an die Peripherie des von Algorithmen und Big Data gesteuerten Cyberspace abgedrängt zu werden.

Das Tagungsthema hätte darüber hinaus allen Anlass geliefert, sich intensiv mit der Kernproblematik des Fachs, der digitalen Transformation der Medien und der Öffentlichkeit, auseinanderzusetzen: so zum Beispiel mit dem auseinanderdriftenden EU-Europa – und der Rolle, die in Europa kleine, „periphere“ Länder wie Belgien, die Niederlande, das Baltikum, aber auch die mehrsprachige, föderalistische Schweiz spielen. Unter solchen Perspektiven hätten die Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung erörtert werden können: wie Öffentlichkeiten segmentiert und Mediensysteme zentralisiert werden, wie in der Politik die „globalisierten“ Eliten die kommunikative Bodenhaftung verlieren,  und wie sich eben das Verhältnis von Zentren und Peripherien verändert – und sich in Zukunft geographische Dichotomien möglicherweise im weltumspannenden Cyberspace auflösen könnten.

Doch die Kommunikationswissenschaft tut sich schwer damit, den gesellschaftlichen Wandel zu durchdringen und zugleich mit der Gesellschaft darüber zu kommunizieren. Dies ist bedauerlich, zumal die Midterm-Wahlen in den USA den Eindruck verfestigten, den die vorangegangenen Abstimmungs- und Wahlergebnisse in der Schweiz, in Österreich, in Polen, in Italien und in Großbritannien vermittelt haben – und der dieser Tage in Frankreich und im Blick auf den Brexit neuerlich augenfällig wird: Dass die abgehängten Peripherien in den westlichen Demokratien gegen die Übermacht der Eliten in den Metropolen Widerstand leisten.

Man sieht auch bereits, wie solche Prozesse – zum Beispiel in den USA, in Ungarn, Italien oder Polen auf den Journalismus sowie die Wissenschaftsförderung und damit auf die Medienforschung durchschlagen. Dies hatte der ECREA-Präsident Ilija Tomanic Trivundza (Universität Ljubljana) wohl im Blick, als er die in der Forschung oft tabuisierte Machtfrage stellte. Er forderte die Forscher auf, nicht nur die urbanen Zentren, sondern auch die Peripherien und deren wirtschaftliche, soziale und geistige Situation im Auge zu behalten. Diesen Appell hätte er ebensogut an die Medienmacher richten können.

José van Dijcks Narrativ vom Kampf der Peripherie gegen die Netzwelt-Zentren war dagegen nicht nur alarmierend, sondern auch verhalten optimistisch. Sie hofft, dass die europäische Zivilgesellschaft und die Service public-Institutionen, soweit nicht zentralstaatlich kontrolliert, Gegenmacht mobilisieren können – von den Schulen über die Universitäten bis hin zum öffentlichen Rundfunk. Van Dijck möchte verhindern, dass die „Big Five“ zu übermächtigen, nur auf kommerzielle Ziele ausgerichteten „Gatekeepern der gesamten westlichen Ökonomien“ werden. Ihrer Vision zufolge könnten die IT-Zentren an Amerikas Westküste von der europäischen Peripherie her aufgebrochen werden. Dies freilich würde voraussetzen, dass sich Europas Zentren dem Siegeszug der europäischen Rechtspopulisten und ihrem provinziellen Nationalismus, sprich: dem Aufstand der eigenen Peripherien, erfolgreich entgegenstemmen. Eine Bedingung dafür wäre, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten die Sorgen und Ängste der Menschen in der Peripherie endlich ernst nehmen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Schweizer Journalist. Für die Veröffentlichung auf EJO hat ihn der Autor leicht überarbeitet.

Bildquelle: pixabay.de

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