Seit Mai müssen ARD, ZDF und Deutschlandradio in ihren Online-Angeboten den Schwerpunkt auf Videos und Tonaufnahmen legen. Die Frage ist, ob den Nutzern diese Regelung zugute kommt.
Am 1. Mai 2019 ist der 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Kraft getreten. Eine wesentliche Neuerung bildet die Reform des sogenannten Telemedienauftrags. Er regelt, was öffentlich-rechtlichen Angeboten im Internet erlaubt ist – und was nicht. Bislang waren lediglich „presseähnliche“ Internetangebote, die keinen Bezug zu einer im Fernsehen oder Hörfunk ausgestrahlten Sendung aufwiesen, unzulässig. Diese Regelung ging vielen Verlagen nicht weit genug. Sie klagten, dass die durch den Rundfunkbeitrag finanzierten Telemedienangebote der Öffentlich-Rechtlichen kaum mehr von journalistischen Online-Auftritten der Verlage zu unterscheiden seien und daher ihren digitalen Werbe- und Verkaufserlösen schadeten.
Der aktualisierte Telemedienauftrag verbietet es öffentlich-rechtlichen Telemedienangeboten nun grundsätzlich, presseähnlich zu sein. Sie dürfen also nach Gestaltung und Inhalt nicht mehr Zeitungen oder Zeitschriften entsprechen. Vielmehr soll der Schwerpunkt der öffentlich-rechtlichen Online-Angebote im audiovisuellen Bereich liegen. Wo nun die Grenze zwischen Rundfunk und Presse im Internet verläuft, kann die gesetzliche Regelung freilich nicht genau ausführen. So produzieren und vertreiben Verlage selbst zunehmend audiovisuelle Inhalte. Dafür beantragen sie Rundfunklizenzen, was mitunter für Auseinandersetzungen mit den Landesmedienanstalten sorgt.
Die Perspektive der Nutzer spielte bei den Verhandlungen zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Verlagen gegenüber ökonomisch-strategischen Motiven offenbar eine untergeordnete Rolle. Doch die Akzeptanz der Nutzer bildet die Basis für die Legitimität des öffentlich-rechtlichen (Online-)Angebots. Dieser Beitrag nimmt die jüngste Einigung daher zum Anlass, 1.) Nutzerpräferenzen und -verhalten im Netz zu charakterisieren, um anschließend 2.) medienrechtliche Spielräume des Rundfunkstaatsvertrags zu analysieren und 3.) das hinter dem Verbot der Presseähnlichkeit stehende Kalkül der Verlage zu diskutieren. Abschließend werden 4.) darauf basierend konkrete Handlungsempfehlungen für eine stabile Koexistenz von Verlagen und Öffentlich-Rechtlichen abgeleitet.
1.) 60 Prozent der Onliner in Deutschland rezipieren Online-Nachrichten meist in schriftlicher Form und schauen nur gelegentlich Nachrichtenvideos. Nur vier Prozent konsumieren Nachrichten meist in Form von Videos und nur gelegentlich als Text. Dementsprechend zurückhaltend ist der zukunftsgerichtete Bedarf an Online-Nachrichtenvideos in Deutschland: Nur etwa jeder Zehnte möchte in Zukunft mehr Online-Nachrichtenvideos sehen, knapp ein Viertel dagegen weniger. Begründet wird die Vorliebe von Text gegenüber Video mit der als einfacher und schneller empfundenen Lektüre von Artikeln (Hölig & Hasebrink, 2019). Verschriftlichte Nachrichten kommen damit dem News Snacking-Nutzungsverhalten der Rezipienten mit der Absicht, schnell einen Überblick über das aktuelle Geschehen oder bestimmte Informationsschnipsel zu erhalten, eher entgegen als audiovisuelle. Außerdem erlaubt Text den höchsten Grad an Selektion. Nutzer können sich gezielt bestimmte Aspekte herausgreifen. Gleichermaßen legen Texte keine Rezeptionsgeschwindigkeit fest. Es ist den Nutzern überlassen, wie schnell sie einen Text lesen. Daher bietet Text enorme Flexibilität gegenüber unterschiedlichen Informationsverarbeitungsmodi, von heuristisch-oberflächlich bis elaboriert-gründlich.
2.) Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat den gesetzlich verankerten Auftrag, eine unabhängige Grundversorgung mit Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung herzustellen und Meinungsvielfalt zu sichern. Dieser Funktionsauftrag ist grundsätzlich „,technologieneutral‘ und nicht durch den ,klassischen‘ (linearen) Rundfunkbegriff abschließend bestimmt“ (Badura, 2009, S. 250). Dass sich der Auftrags- und Wirkungsbereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ins Internet ausdehnt, lässt sich daher mit dessen Beitrag zur Meinungsbildung und -vielfalt sowie zur Orientierung der Nutzer im Internet durch unabhängige, qualitätsvolle, „objektive“ und allgemein zugängliche Inhalte begründen (Lobigs & Neuberger, 2018). Nach dieser Argumentation sollten sich die öffentlich-rechtlichen Anstalten „zur Realisierung dieses Auftrags […] der im Internet üblichen Mittel bedienen, also auch Text-Bild-Seiten“ (Papier & Schröder, 2010, S. 30) verwenden dürfen.
3.) Auf die Krise ihres etablierten Geschäftsmodells reagieren viele Medienunternehmen weniger damit, ihre eigene Organisation zu verändern oder Innovationen zu fördern, als sich vielmehr strategisch zu institutionalisieren. Das umfasst die Absicht, die extraorganisationalen Rahmenbedingungen zu verändern und unter anderem politische Renten abzusichern (Brüggemann et al., 2012; Buschow, 2012). Letztlich soll das Verbot der Presseähnlichkeit öffentlich-rechtlicher Telemedienangebote im Sinne der Verleger als Mechanismus fungieren, der die bisher gering ausgeprägte Preisbereitschaft von Online-Nachrichtennutzern für kommerzielle Textberichterstattung fördert. Insgesamt dürften rentable Bezahlmodelle jedoch eher in einer Nischennutzung von Qualitätsmedien statt in einer gesellschaftlich übergreifenden Nutzung von General Interest-Angeboten resultieren. So sind allgemein (und insbesondere für weniger Zahlungskräftige) zugängliche, hochwertige Nachrichten in Textform einer vertrauenswürdigen Marke gesellschaftlich wünschenswert, gerade weil Qualitätsmedien ihre Inhalte zunehmend kostenpflichtig vertreiben.
4.) Das Internet wird in absehbarer Zeit über alle Altersgruppen hinweg das wichtigste Medium zur informierenden Nutzung sein. Daher sollten die Rahmenbedingungen des Online-Angebots von ARD, ZDF und Deutschlandradio auf das „wandelnde Nutzungsverhalten und auf die technischen Herausforderungen der Digitalisierung“ (Dörr u. a., 2016, S. 86) ausgerichtet werden, indem der Grundversorgungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen über den linearen Rundfunk hinaus auf das Telemedienangebot erweitert wird. Mittelfristig sollten journalistisch-redaktionelle Innovationen unterstützt werden, um eine friedliche und stabile Koexistenz von Öffentlich-Rechtlichen und Privaten zu gewährleisten. So sieht der Vorentwurf des Bundesgesetzes über elektronische Medien in der Schweiz eine Förderung für (kommerzielle) Medienangebote, auch solche im Internet, die einen „besonderen Beitrag zur demokratischen Meinungs- und Willensbildung, zur kulturellen Teilhabe und zur gesellschaftlichen Integration leisten“ vor. Sie sollen nach Abschluss einer Leistungsvereinbarung mit der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) einen Anteil der Haushaltsabgabe (Abgabe für elektronische Medien) erhalten. Allerdings begrenzt sich die Förderung, wohl auch hier aus Rücksichtnahme auf die Verlage, auf Medienangebote, die „im Wesentlichen mit Audio- und audiovisuellen Medienbeiträgen“ erbracht werden (Art. 46 Abs. 1 BGeM). Entwurf für einen Medienstaatsvertrag, der den Rundfunkstaatsvertrag ablösen wird, beinhaltet ebenfalls eine Förderung journalistischer Projekte (§ 40 Abs. 1). Diese kann sich auch auf vorwiegend textliche Internetangebote erstrecken, tritt dabei aber in Konkurrenz zur Förderung offener Kanäle. Darum wäre eine Ausweitung der bereitgestellten Mittel angebracht. Ferner könnten die Öffentlich-Rechtlichen ihr Wissen über Mediatheken, Datenjournalismus, App-Entwicklung und Personalisierung mit privaten Medienunternehmen teilen. Nicht zuletzt könnten die Bundesländer eine gemeinsame Plattform für die Inhalte privater Medienunternehmen fördern (Buschow, 2018).
Dass das Wechselspiel von Nutzerbedürfnissen und der Konvergenz des Medienangebots sowie die sich daraus ergebenen Wirkungen in der Medienregulierung bislang unzureichend berücksichtigt werden, spricht letztlich für einen intensiveren Austausch von Kommunikationswissenschaft und Medienpolitik. Schließlich werden die Fragen, wie weit der verfassungsrechtlich legitimierte, gesellschaftlich wünschenswerte und medienökonomisch vereinbare Geltungsbereich der öffentlich-rechtlichen Anstalten reicht, und was abseits dessen wie intensiv reguliert werden sollte, in Zukunft weiter an Relevanz gewinnen.
Dieser Beitrag basiert auf einer Veröffentlichung in der Open Access-Zeitschrift Studies in Communication and Media 8(3). Link: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2192-4007-2019-3-338.pdf?download_full_pdf=1&page=1
Literatur
Badura, P. (2009). Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bieten Rundfunk und Telemedien an. Archiv des öffentlichen Rechts, 134, 240–267.
Brüggemann, M., Esser, F., & Humprecht, E. (2012). The Strategic Repertoire of Publishers in the Media Crisis: The “Five C” scheme in Germany. Journalism Studies, 13(5–6), 742–752. https://doi.org/10.1080/1461670X.2012.664336
Buschow, C. (2012). Strategische Institutionalisierung durch Medienorganisationen. Der Fall des Leistungsschutzrechtes. Köln: von Halem.
Buschow, C. (2018). Die Neuordnung des Journalismus: Eine Studie zur Gründung neuer Medienorganisationen. Wiesbaden: Springer VS, Springer Fachmedien Wiesbaden.
Dörr, D., Holznagel, B., & Picot, A. (2016). Legitimation und Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Zeiten der Cloud [Gutachten]. Mainz.
Hölig, S., & Hasebrink, U. (2019). Reuters Institute Digital News Report 2019. Ergebnisse für Deutschland. Abgerufen von https://hans-bredow-institut.de/uploads/media/default/cms/media/x52wfy2_AP47_RDNR19_Deutschland.pdf
Lobigs, F., & Neuberger, C. (2018). Meinungsmacht im Internet und die Digitalstrategien von Medienunternehmen: Neue Machtverhältnisse trotz expandierender Internet-Geschäfte der traditionellen Massenmedien-Konzerne: Gutachten für die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich. Leipzig: VISTAS Verlag.
Papier, H.-J., & Schröder, M. (2010). „Gebiet des Rundfunks“. Gutachten von H.-J. Papier und M. Schröder zu „Presseähnlichen Angeboten“. epd medien, (60), 16–33.
Bildquelle: Screenshot
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