Überall Liveticker zum Coronavirus – warum Risikoforscher und Medienwissenschaftler vor „Panik in der Vollkaskogesellschaft“ warnen.
Nach dem Klima- und Greta-Hype ist dem Coronavirus zumindest medial derzeit nicht zu entrinnen – es sei denn, man folgt dem Bestseller-Autor Rolf Dobelli und verordnet sich selbst eine Null-Diät, eine totale Nachrichtensperre: Kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitung, kein Internet.
Das wirft die Frage auf, wovor wir uns mehr ängstigen sollten: Vor dem Corona-Virus, das sich zwar in atemberaubenden Tempo ausbreitet, das fraglos gefährlich, aber für die meisten von uns nicht lebensbedrohlich ist? Oder eher vor der Corona-Panik, vor Hamsterkäufen und leeren Regalen im Supermarkt, vor dem Crash an den Finanzmärkten und unterbrochenen Lieferketten in der Realwirtschaft? Sind es Überreaktionen, wenn in China Millionen-Städte unter Quarantäne gestellt und in Italien die Schulen geschlossen wurden? Oder war es gefährliche behördliche Schlafmützigkeit, wenn in Deutschland trotz der bereits absehbaren Verbreitung des Virus – und übrigens auch trotz der Attentate in Hanau und Volkmarsen, die uns eigentlich jedwede Lust auf närrisches Treiben hätten ersticken müssen – weder den Karneval noch die politischen Aschermittwochs-Bierzeltgelage noch die Berliner Filmfestspiele abgesagt wurden?
Auch wenn derzeit niemand die Antwort auf solche Fragen weiß, ermahnen der Berliner Risikoforscher Gerd Gigerenzer und viele seiner Kollegen zu mehr Gelassenheit. Gigerenzer verweist auf die Vorerfahrungen mit Rinderwahn, SARS, der Vogel- und der Schweinegrippe und er erinnert daran, dass wir es jährlich mit Tausenden Grippetoten zu tun haben. In deutschen Krankenhäusern kämen jährlich zudem 18 000 Tote durch Behandlungsfehler ums Leben. Wir müssten schlichtweg lernen, mit der Ungewissheit zu leben. Ganz ähnlich argumentiert der Schweizer Medienforscher Matthias Zehnder: Wie Medien in Pushnachrichten und Livetickern die Ansteckungen zählten, erinnert ihn vielfach an „Bahnhofdurchsagen“. Das Resultat sei „Panik in der Vollkaskogesellschaft“. Das größte Problem ist wohl im Moment nicht das Virus, sondern die von medialem Trommelfeuer geschürte Angst.
Rolf Dobelli: Die Kunst des digitalen Lebens. Die Kunst des digitalen Lebens: Wie Sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern, München: Piper 2019
Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis: Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken, München: Piper 2015
Erstveröffentlichung: tagesspiegel.de vom 8. März 2020
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Schlagwörter:China, Coronavirus, Deutschland, Italien, Liveticker, Medien, Panik, Pushnachrichten