War es die deutsche Bundeskanzlerin, oder haben die Journalisten die Energiewende herbeigeführt?
An dieser Frage werden sich dereinst Historiker die Zähne ausbeißen, und sie wird sich vermutlich nie eindeutig beantworten lassen. Immerhin haben die Mainzer Medienforscher Hans Mathias Kepplinger und Richard Lemke die Medienberichterstattung zum Reaktorunglück in Fukushima unter die Lupe genommen – in Deutschland und der Schweiz sowie vergleichend in Frankreich und Großbritannien, wo es keine Energiewende gab. Sie haben dabei Erstaunliches herausgefunden.
Um die Daten zwischen den vier Ländern vergleichbar zu machen, bezogen die Wissenschaftler jeweils zwei große Qualitäts-Tageszeitungen und die wichtigsten Fernsehnachrichten in ihre Analyse ein. Schon im Umfang der Berichterstattung stellten sie riesige Unterschiede fest. Die untersuchten deutsche Zeitungen und Fernsehnachrichten brachten in den vier Wochen nach dem Reaktorunfall 577 Beiträge über Fukushima, in der Schweiz waren es 521, während es in Frankreich 319 und in England nur 271 waren. Die britischen Journalisten widmeten dem Thema also noch nicht einmal halb so viel Aufmerksamkeit wie die deutschen.
Nicht minder dramatisch sind die Unterschiede bei der Bewertung und Charakterisierung des Ereignisses. Während sich die britischen und französischen Medien intensiver mit dem Reaktorunfall in Japan selbst beschäftigten, haben die deutschen und Schweizer Medien vor allem die Relevanz des Reaktorunfalls fürs eigene Land beschrieben. 90 Prozent der untersuchten Beiträge diskutierten den möglichen Ausstieg aus der Kernenergie und ein Moratorium. „Fukushima wurde somit zum Menetekel, das Konsequenzen verlangt“, sagt Kepplinger. Den Forschern zufolge ließen die Journalisten vorwiegend jene Experten zu Wort kommen, die ihre eigene Meinung bestätigten.
„Die untersuchten Staaten sind ähnlich weit von Japan entfernt und keinen vergleichbaren Naturkatastrophen ausgesetzt, die Kernkraftwerke in Europa besitzen ähnliche Sicherheitsstandards. Somit ist die negativ besetzte Berichterstattung nicht durch die ‘Natur des Ereignisses’ zu erklären”, betont Kepplinger. Vielmehr seien die Unterschiede in der Gewichtung und Charakterisierung der Reaktorkatastrophe mit hoher Wahrscheinlichkeit auf „langfristig gewachsene, vorherrschende Einstellungen und Meinungen im Journalismus“ in den vier Ländern zurückzuführen.
Nachdenklich zur Fukushima-Medienhype stimmen auch folgende Zahlen, die Kepplinger zusätzlich ins Feld fühlt: Das Seebeben vor Japan habe im März 2011 zwei Katastrophen ausgelöst – „einen extremen Tsunami, dem vermutlich mehr als 30 000 Menschen zum Opfer gefallen sind, und den Reaktorunfall in Fukushima, durch den bislang drei Menschen ums Leben gekommen sind und dessen Strahlung vermutlich zwischen 100 und 1 000 zusätzliche Krebstote verursachen wird.”
Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Praxisseminars zur „Medienberichterstattung über Journalismus- und Medienforschung“ an der Universität Mainz entstanden.
Erstveröffentlichung: Schweizer Journalist Nr. 8+9/2012
Schlagwörter:Berichterstattung, Deutschland, Frankreich, Fukushima, Großbritannien, Hans Mathia, Richard Lemke, Schweiz