Soziale Medien 1.0

12. Oktober 2015 • Qualität & Ethik • von

Wozu brauchen Flüchtlinge Smartphones? Der Sozialneid machte in den letzten Wochen auch vor dieser Frage nicht halt. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass mobile Medien und Netzzugänge kein Luxus im Flüchtlingsalltag sind, sondern praktisch die einzig verbliebene Nabelschnur zu Familie und Heimat. Garanten für Teilhabe und Zugehörigkeit im neuen Lebensumfeld sind sie freilich nicht. Können Medien denn überhaupt solche Wirkungen entfalten?

Straßenzeitung

Nützlich für soziale Integration: Straßenzeitungen wie “Hinz und Kunzt”

Theoretisch ja: Partizipation und Integration durch digitale Medien lauten die Zauberformeln der Demokratietheorie. Sieht man genauer hin, geht es tatsächlich aber oft nur darum, die Chancen Hochgebildeter noch ein wenig zu optimieren. Man bleibt fein säuberlich unter sich, in der eigenen Filter Bubble. Der Algorithmus des Netzwerks echter und falscher Freunde ersetzt nur vermeintlich die zufällige Begegnung. Die „Liquid Democracy“ findet nur im eigenen Whirlpool statt, aus dem selten etwas „überschwappt.“ Und doch: Medien können zu Teilhabe und Integration beitragen. Nur muss es eben nicht immer High Tech 2.0 oder die durchorganisierte Themenwoche milliardenschwerer Gebührensender mit Integrationsauftrag sein.

Bertram Scheufele und Carla Schieb haben kürzlich gezeigt, wie nützlich altmodische Printmedien für soziale Integration sein können. In einer der seltenen Studien zu diesem Thema fanden sie heraus, dass Straßenzeitungen Wohnungslosen nicht nur eine Chance bieten, auf die eigenen Probleme aufmerksam zu machen. Sie tragen auch zur Wiedergewinnung von Selbstbewusstsein und Teamfähigkeit bei, weil sie die zuverlässige Zusammenarbeit voraussetzen. Und, nicht zu vergessen, Straßenzeitungen schaffen Jobs für Menschen, die auf dem ersten und dem zweiten Arbeitsmarkt nicht gefragt sind: Ökonomisches, lebensweltliches und persönliches „Empowerment“ wirken in Straßenzeitungs-Projekten zusammen.

Wohnungslose Menschen erreichen damit viel eher Menschen, die selbst nicht obdachlos sind, aber niemals im Netz oder gar auf Facebook mit ihnen in Kontakt kämen. „Strassenfeger“, „Motz“ & Co. dienen seit rund zwanzig Jahren nicht nur, wie das Gros der Onlineforen, der Selbstverständigung nach innen. Sie können helfen, Kontakte zwischen Menschen herzustellen, deren Profile gerade nicht zueinander passen. Das erst macht eine Gesellschaft aus, die mehr als das Nebeneinander von Communities sein möchte. Vielleicht brauchen wir heute und künftig mehr solcher altmodischen Medienprojekte, auch um die Integration von Flüchtlingen zu erleichtern.

Scheufele, Bertram/ Schieb, Carola: „Wenn wir Trott-war nicht hätten.“ Eine Untersuchung zum Verkauf von Straßenzeitungen zwischen Job und Empowerment. Berlin: Lit 2014.

Eine kürzere Version erschien im Tagesspiegel vom 11. Oktober 2015

Bildquelle: Gerhard Kemme / Flickr CC

 

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