Journalisten sind als Moralisten zweimal so gut wie der Rest. Sie sind Doppelmoralisten.
Letzte Woche im Warenhaus Manor in Baden. Die Schlange vor der Kasse ist lang. Patrik Müller, der Chefredaktor der Schweiz am Sonntag, stellt sich hinten an.
Doch nun passiert etwas Ungewöhnliches. Er solle doch bitte vorgehen, sagt man in der Schlange, er habe sicher Wichtigeres zu tun. Alle lassen Müller durch.
Patrik Müller ist in seiner Heimatstadt populär. Er ist es, seit er vor vier Wochen die Nacktbilderaffäre um Badens Stadtammann Geri Müller losgetreten hat.
Bei seinen Berufskollegen ist Chefredaktor Müller deutlich weniger populär. Für seinen “armseligen Journalismus” müsste man ihn absetzen, schrieb die NZZ am Sonntag. Er sei der “Verlierer” der Affäre, urteilte die Sonntagszeitung. Er sei “nicht mehr tragbar”, wusste die Wochenzeitung. Er könne “froh sein, wenn er die Affäre unbeschadet übersteht”, sagte die Weltwoche.
Warum wird Journalist Müller derart heftig angegriffen? Er wird angegriffen, weil er die Privatsphäre des Politikers verletzt haben soll. Oder wie die NZZ am Sonntag entrüstet schrieb: “Die vermeintliche Enthüllung war belanglos und ein Übergriff auf das Privatleben.”
So kommen wir nun zur zentralen Frage. Wie viele Artikel schrieben bis heute die entrüstete NZZ, Sonntagszeitung, Wochenzeitung und Weltwoche zu dieser belanglosen Affäre, welche ein Übergriff auf das Privatleben waren? Es waren sechzig Artikel, voll mit Pikanterien aus dem Intimleben des Politikers. Wir sind damit im Fach der Doppelmoral angekommen.
Mit allen schmutzigen Details
Doppelmoral besteht darin, dass man anders handelt, als man predigt. Nehmen wir darum vier neuere Beispiele aus den vier Blättern, die Chefredaktor Müller die Verletzung von Persönlichkeitsrechten vorwarfen.
Die NZZ enthüllte private “Nackt-Selfies aus dem Bundeshaus”. Eine Beamtin stellte Selbstporträts ins Netz. Sie wurde entlassen. Ihre Privatsphäre war dem Blatt egal.
Die Sonntagszeitung enthüllte, dass Armeechef Roland Nef privat seiner Partnerin als Stalker nachsetzte. Nef wurde entlassen. Seine Privatsphäre war dem Blatt egal.
Die Wochenzeitung enthüllte das Privatleben von Geheimdienstchef Markus Seiler in Auto und Garten und setzte gar eine Drohne auf ihn an. Seine Privatsphäre war dem Blatt egal.
Die Weltwoche enthüllte die privaten Devisenspekulationen von Nationalbanker Philipp Hildebrand. Er wurde entlassen. Seine Privatsphäre war dem Blatt egal.
In solchen Beispielen, wie zuletzt auch in der Müller-Affäre, ist die Medienresonanz vergleichbar. Erst verurteilen die Journalisten die Verletzung der Privatsphäre scharf. Dann schreiben alle begeistert und wochenlang über den Fall, mit allen schmutzigen Details.
Der Mechanismus der Medien ist einfach. Genau zum Zeitpunkt, an dem über ein Thema erstmals geschrieben wird, wird dieses Thema gesellschaftlich verfügbar und verkäuflich. Nun dominiert das sogenannte öffentliche Interesse. Öffentliches Interesse legitimiert jetzt jede Brandwunde im privaten Bereich.
Es braucht also einen, der das Thema als Erster öffentlich macht. Dann kann sich die Meute hemmungslos darauf stürzen. Zuletzt war dieser Türöffner Patrik Müller.
Es ist nachvollziehbar, dass die Meute dann mitunter eine Art Schamgefühl entwickelt. Darum haut sie auf den Türöffner ein, der den Fall auslöste. In der Psychologie ist dieser Katharsis-Effekt bekannt: Die kollektive Bewältigung führt zur Stigmatisierung eines Individuums.
450 v.Chr. beschrieb Sophokles das Mediensystem im antiken Griechenland. Seine Analyse blieb bis heute gültig: “Tötet nicht den Boten.”
Erstveröffentlichung: Die Weltwoche vom 11. September 2014
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Schlagwörter:Ethik, Gerigate, Journalismus, Kurt W. Zimmermann, Moral, NZZ, Patrik Müller, Privatsphäre, Schweiz am Sonntag