Vergessene Schicksale, mangelnde Ressourcen: Flucht- und Migrationsberichterstattung in Deutschland und Kroatien

7. Oktober 2022 • Aktuelle Beiträge, Internationales, Qualität & Ethik • von

Deutschland und Kroatien sind Länder, die seit 2015 verstärkt von Migrations- und Fluchtbewegungen betroffen sind. Dennoch ist sowohl in Deutschland als auch in Kroatien die Berichterstattung über Migranten und geflüchtete Menschen in den vergangenen Jahren – mit Ausnahme der aktuellen Berichterstattung zur Ukraine – zurückgegangen. Dieser Artikel untersucht wie die Medien in beiden Ländern über Migranten und geflüchtete Menschen berichten und versucht Lösungen für journalistische Herangehensweisen zu finden.

Im Aufnahmezentrum in Lipa, nahe der kroatisch-bosnischen Grenze, leben rund 300 bis 350 Männer. Foto: Alice Pesavento

Wenn man von der kroatischen Grenze zum Aufnahmezentrum für Geflüchtete in Lipa nahe der bosnischen Stadt Bihac fährt, ziehen am Fenster zunächst noch vereinzelte Häuser, dann aber vor allem kilometerlange Wälder vorbei. Zwischen ihnen taucht irgendwann im Nirgendwo das Containerlager Lipa, ein Aufnahmezentrum für geflüchtete Menschen, auf. Hier wohnen circa 300 bis 350 Männer. Frauen und Kinder sind separat in anderen Aufnahmezentren regionalweit in ganz Bosnien und Herzegowina untergebracht. Viele der männlichen Bewohner im Camp Lipa stammen aus Ländern wie Afghanistan, Pakistan, Kamerun, einige sogar aus Kuba.

Ihr Ziel: Die Einreise in die Europäische Union (EU), zum Beispiel über das Nachbarland Kroatien. Einen legalen Weg in die EU in Form einer Antragstellung auf Asyl, gibt es für die Bewohner des Containerlagers jedoch nicht. Stattdessen können sie die International Organization for Migration (IOM) um eine freiwillige Rückführung ins eigene Heimatland bitten. Doch dies würde bedeuten, dass sie so kurz vor dem Ziel, nur wenige Kilometer von der Europäischen Union entfernt, die Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihre Familien aufgeben würden. Die dabei erduldeten Entbehrungen der oftmals über Monate und in manchen Fällen gar Jahre dauernden Reise sind hoch.

Eine freiwillige Rückführung kommt im Camp Lipa deshalb für so gut wie niemanden in Frage. Egal mit wem man spricht, es gibt eigentlich nur einen Plan: „Go game“, wie die Bewohner es nennen. Das heißt, die kroatisch-bosnische Grenze so oft illegal zu überqueren, um die Europäische Union zu erreichen, bis es klappt. Fast jeder hier hat das schon mehrfach versucht. Es ist ein schwieriges und gefährliches Unternehmen. Viele wurden bei diesen Versuchen durch die rohe Gewalt der kroatischen Grenzpolizisten verletzt und dann zurück ins Camp auf die bosnische Seite gebracht oder haben ihre wenigen Habseligkeiten wie Telefon, mit dem sie Kontakt zu ihren Familien halten, verloren.

Kroatien: Problemzentrierung und fehlende Berichterstattung über Integration

Schräg gegenüber vom Eingang des eingezäunten Containerlagers, in dem die Bewohner ein- und ausgehen können, gibt es einen Mini-Supermarkt. Davor stehen Stühle, auf ihnen sitzen einige der Männer, die hier wohnen. Sie laden uns ein, uns zu ihnen zu setzen. Als er erfährt, dass wir Journalisten sind, sagt Hamza*, ein junger Mann aus Pakistan: „Ihr Journalisten kommt immer hierhin, dann berichtet ihr über uns, aber es ändert sich trotzdem nichts an unserer Situation“.

Es ändert sich nichts, sagt Hamza. Und: Die Berichte in den kroatischen Medien werden weniger, meint Gordana Vilović. Sie ist Professorin an der Fakultät für Politikwissenschaften der Universität Zagreb in Kroatien, wo sie unter anderem Medienethik lehrt. „In den letzten Monaten habe ich kaum Berichterstattung über Migranten oder das Leben von geflüchteten Menschen hier in Kroatien gesehen. Und das tut mir Leid, denn es bedeutet, dass dieses Thema sehr wahrscheinlich im Moment nicht Teil der Agenda ist und andere Themen als wichtiger erachtet werden“, sagt Vilović.

Laut ihr berichten die kroatischen Medien eigentlich nur dann über Migranten und geflüchtete Menschen, wenn etwas Schlimmes – wie z.B. ein Unfall – passiert ist. Die Berichterstattung in Kroatien ist demnach sehr problemzentriert und von negativen Ereignissen bestimmt. Dennoch betont Vilović, dass diese Art der Berichterstattung in den allermeisten Fällen nicht die Schuld der Journalisten selbst sei. „Das Leben von Journalisten in Kroatien ist schwer. Sie werden unzureichend bezahlt und sind gefangen zwischen dem Sensationsbedürfnis, dem Bedürfnis nach tagesaktuellen Nachrichten und dem, was die kroatische Regierung auf den Titelseiten sehen möchte“, so Vilović. Und sie erklärt weiter: „Ich weiß, dass es in Kroatien viele fähige und ausgezeichnete Journalisten gibt. Aber sie brauchen Zeit und Geld, um ein oder zwei Tage in Vor-Ort-Recherchen zu investieren und dann Geschichten über die Menschen zu schreiben, die fast vergessen sind“. Diese Möglichkeit zur Recherche würden die Redaktionen den Journalisten aber in den meisten Fällen nicht geben.

Auch werde das Thema Integration von Migranten und geflüchteten Menschen in die kroatische Gesellschaft in der Berichterstattung so gut wie nicht beachtet. An ihrer Fakultät versuchen Gordana Vilović und ihre Kollegen deshalb dem entgegenzuwirken und ihre Studierenden für dieses Thema zu sensibilisieren, beispielsweise durch Projekte wie „Reporting Refugees“, die sich speziell mit der Migrations- und Fluchtberichterstattung auseinandersetzen. „In der Umgebung von Zagreb und auch an der Adriaküste sehen wir mehr und mehr Menschen, die Migranten waren, einen Job gefunden haben und nun in Kroatien wohnen“, stellt Vilović fest. Eine qualitativ hochwertige Berichterstattung über das Thema Integration werde deshalb für kroatische Journalisten immer wichtiger – auch um Solidarität für diese Menschen und deren Belange in der Bevölkerung zu entwickeln.

Deutschland: Negativität und fehlende Stimmen von Betroffenen

Auch in Deutschland wird seit 2015 immer seltener über geflüchtete Menschen – mit Ausnahme jener, die aufgrund der aktuellen Kriegsgeschehnisse aus der Ukraine fliehen mussten – berichtet. Hinzu kommt, dass die Darstellung geflüchteter Menschen zwischen den Jahren 2016 und 2020 fast kontinuierlich negativer wurde. Eine Studie von Maurer, Jost, Kruschinski und Haßler (2021, S. 19) bestätigt im Ergebnis, dass in der Medienberichterstattung in Deutschland „am Ende kaum noch Beiträge mit einer positiven Darstellung von Geflüchteten erschienen sind“.

Und auch frühere Studien zeigen: Die Berichterstattung der deutschen Medien über Ausländer, Migranten und insbesondere Asylbewerber ist überwiegend negativ (Delgado, 1972; Merten & Ruhrmann, 1986). In jedem zehnten, der von Maurer et al. (2021) untersuchten Artikel, geht es um Terrorismus und Flüchtlingskriminalität, auch Gewalt- und Sexualverbrechen sind thematisch in der Medienberichterstattung dabei deutlich überrepräsentiert.

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Perspektiven von geflüchteten Menschen selbst nur selten in die Berichterstattung, als auch in die Forschung über diese einfließen. Vor dem Hintergrund der Diversitätsdebatten im Journalismus sind diese Perspektiven aber besonders wichtig, um eine gerechtere, inklusivere und diversere Berichterstattung zu erreichen und unterberichtete Themen im Sinne eines Agenda Cuttings zu identifizieren. Eine der wenigen Studien zu diesem Thema kommt von Zappe et al. (2020), in der Diskussionen mit Fokusgruppen geflüchteter Menschen aus sub-Sahara Afrika durchgeführt wurden. In diesen Fokusgruppen konnten die Teilnehmer dabei auch ihre Sicht auf die deutsche Migrationsberichterstattung darlegen. Ähnlich wie bereits zuvor in anderen Studien (z. B. Esses et al., 2013; Hemmelmann & Wegner, 2017), schätzten die Befragten die Berichterstattung in deutschen Medien grundsätzlich „as too one-sided and as reduced to the sub-themes of poverty and war“ ein (Zappe et al., 2020, S. 132).

Deshalb ist es – wie bereits von Gordana Vilović erwähnt – für eine qualitativ hochwertige Flucht- und Migrationsberichterstattung wichtig, unter anderem auch umfassend über das Thema Integration zu berichten. Laut Müller (2017) folgt die Integrationsberichterstattung jedoch häufig dem Prinzip der „single story“, wobei meistens über die schnelle und erfolgreiche Integration einer Person berichtet wird, jedoch nicht über die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Für eine umfassende und qualitative Berichterstattung ist es deshalb essenziell, auch über Integrationshindernisse zu berichten.

Podcasting als Chance für eine tiefergehende Berichterstattung

Generell sollten Journalisten darauf achten, über Geflüchtete nicht verkürzt zu berichten, sondern die Komplexität von Migration und Flucht zu vermitteln und tiefergehend zu berichten (White, 2015). Auch der Europarat hat diese Bedeutung erkannt und die Medien im speziellen zur Art und Weise der Medienberichterstattung als “public watchdog” bezeichnet. Eine Chance, um vor allem jüngere Nutzer mit tieferen und fundierten journalistischen Inhalten über Themen wie Migration und Flucht zu erreichen, könnten journalistische Podcasts sein, die zunehmend beliebter werden. Podcasts wirken besonders auf jüngere Altersgruppen ansprechend und können mit ihrer Ausführlichkeit den oft verkürzten Nachrichten, die über Social Media verbreitet und konsumiert werden, entgegenwirken (Frühbrodt & Auerbach, 2021). So informierten sich im Jahr 2021 laut dem Digital News Report des Reuters Instituts 70 Prozent der 18- bis 24- Jährigen und 57 Prozent der 25- bis 34-Jährigen hauptsächlich online über das tagesaktuelle Nachrichtengeschehen. Von den 18- bis 24-Jährigen nutzt dabei ein erheblicher Teil (46 Prozent) das Internet als alleiniges Informationsmedium (Hölig et al., 2021).

Cover des Podcasts “7 Jahre Deutschland”.

Ein leichter Zugang zum Medium Podcast ermöglicht, dass dieses sehr offen und inklusiv für seine User ist und dass eine konversationelle, persönliche und informelle Atmosphäre geschaffen wird (Llinares et al., 2018). Das Medium kann Personen, die in den traditionellen Medien nur selten zu Wort kommen – wie z.B. geflüchteten Menschen – durch Podcasts einen Raum geben, in dem ihre Stimmen zum Ausdruck kommen können und ihre Lebenswelten abgebildet werden. Dies wurde zum Beispiel in der dreiteiligen Podcastserie „7 Jahre Deutschland“ umgesetzt.

Die Podcastserie ist das Ergebnis der Bachelorarbeit „7 Jahre Deutschland“ – Konzeption und Produktion eines journalistischen Best-Practice- Formats über die Themen Flucht und Integration“ (Pesavento, 2022). Sie behandelt die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 und die Zeit danach aus der Sicht von geflüchteten Menschen selbst sowie von Menschen in Deutschland. Mithilfe von Experten werden zudem der Stand der Integration, Integrationshindernisse und mögliche Lösungsansätze benannt. Zu hören sind vor allem geflüchtete Menschen selbst.

Quellen:

Delgado, J. M. (1972). Die Gastarbeiter in der Presse: Eine inhaltsanalytische Studie. Op- laden: Leske.

Esses, V. M., Medianu, S., & Lawson, A. S. (2013). Uncertainty, threat, and the role of the media in promoting the dehumanization of immigrants and refugees. Journal of Social Issues, 69(3), 518–536. https://doi.org/10.1111/josi.12027

Frühbrodt, L., & Auerbach, R. (2021). Den richtigen Ton treffen. Der Podcast-Boom in Deutschland. Otto Brenner Stiftung. Abgerufen 21. Mai 2022, von: https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissen- schaftsportal/03_Publikationen/AH106_Podcasts.pdf

Hemmelmann, P., & Wegner, S. (2017). Refugees in the media discourse: Patterns of cov- erage in German media. TelevIZIon, 4.

Hölig, S., Hasebrink, U., & Behre, J. (2021). Reuters Institute Digital News Report 2021: Ergebnisse für Deutschland. Arbeitspapiere des Hans-Bredow-Instituts. https://doi.org/10.21241/SSOAR.73637

Llinares, D., Fox, N., & Berry, R. (2018). Introduction: Podcasting and Podcasts – Param- eters of a New Aural Culture. In D. Llinares, N. Fox, & R. Berry (Hrsg.), Podcast- ing: New aural cultures and digital media (1st ed. 2018, S. 1–13). Cham: Springer International, Palgrave Macmillan. https://doi.org/10.1007/978-3-319-90056-8

Maurer, M., Jost, P., Kruschinski, S., & Haßler, J. (2021). Fünf Jahre Medienberichterstattung über Flucht und Migration. Mainz: Institut für Publizistik, Stiftung Mer- cator. Abgerufen 21. Mai 2022, von: https://www.stiftung-mercator.de/content/up- loads/2021/07/Medienanalyse_Flucht_Migration.pdf

Merten, K., & Ruhrmann, G. (1986). Das Bild der Ausländer in der deutschen Presse: Ergebnisse einer systematischen Inhaltsanalyse (1. Aufl). Frankfurt am Main: Dağyeli.

Müller, M. M. (2017). Germany. “We can do it”: A test of media solidarity and political nerve over migration. In ICMPD (Hrsg.), How does the media on both sides of the Mediterranean report on migration? A study by journalists, for journalists and pol- icy-makers. Abgerufen 21. Mai 2022, von https://www.icmpd.org/file/down- load/48386/file/How%2520does%2520the%2520me- dia%2520on%2520both%2520sides%2520of%2520the%2520Mediter- ranean%2520report%2520on%2520migration_%2520EN

Pesavento, A. (2022). „7 Jahre Deutschland“ – Konzeption und Produktion eines journalistischen Best-Practice- Formats über die Themen Flucht und Integration“. Unveröffentlichte Bachelorarbeit am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund.

White, A. (2015). Moving stories: International review of how media cover migration. London: Ethical Journalism Network. Abgerufen 21. Mai 2022, von: https://ethi- caljournalismnetwork.org/assets/docs/054/198/8feb836-108e6c6.pdf

Zappe, A.-C., Bastian, M., Leißner, L., & Henke, J. (2020). Perspektivwechsel. Migrati- onsberichterstattung in ausgewählten afrikanischen Ländern und Deutschland aus Migrant*innensicht. In V. Gehrau, A. Waldherr, & A. Scholl (Hrsg.), Integration durch Kommunikation (in einer digitalen Gesellschaft): Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2019 (S. 131–140). Münster: Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft e.V. https://doi.org/10.21241/ssoar.68126

*Name von der Redaktion geändert

Teile dieses Artikels sind im Rahmen der Studienreise „Europäische Migrationspolitik im Brennglas“ nach Kroatien und Bosnien und Herzegowina entstanden, an der eine Gruppe Studierender der TU Dortmund im Juni teilgenommen haben.

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