Das Geld beugt den Geist

10. Dezember 2004 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung

Feuilletons unter dem Druck der Ökonomisierung

Die Umwälzungen im Mediensektor tangieren einen prestigeträchtigen Teil der Publizistik: das Feuilleton. Ökonomische Fragen der Rendite und Publikumsmaximierung werden wichtiger. Die elitären Themen der Hochkultur geraten in Rechtfertigungsnot.

Der derzeitige Konflikt in Basel legt es bloss: Das Zeitungsressort, das mehr als alle anderen über die blosse Nachrichtengebung hinaus Orientierungshilfe geben soll, bedarf selbst der Um- und Neuorientierung. Dabei hat sich das Feuilleton bereits in den letzten zwei, drei Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum einschneidender verändert als die meisten anderen Sparten des Journalismus – ein Trend, der im Folgenden als «Ökonomisierung» beschrieben wird.

Öffnung gegenüber Alltag und Lifestyle

Insgesamt haben sich die Feuilletons diskontinuierlich und schubweise gewandelt. In Radio und Fernsehen führte die Zulassung privater Rundfunkanbieter Mitte der achtziger Jahre zu den wohl dramatischsten Veränderungen. Die Feuilletonredaktionen der Tageszeitungen haben den Wandel zeitweise verschlafen – denn meist vollzog er sich bei ihnen erst unter dem Eindruck neuer Special-Interest-Zeitschriften, die Marktnischen besetzten: So bewirkte der Erfolg von TV- und Kino-Zeitschriften, dass Zeitungen ihre Fernseh- und Medienberichterstattung ausbauten. Stadtmagazine – in Berlin etwa «Zitty» und «tip» – waren es, die im Verbund mit erfolgreichen Lifestyle-Titeln wie «Tempo» und «Max» die Feuilletons veranlassten, aus dem Hochkultur- Olymp in die Niederungen von Pop- und Alltagskultur herabzusteigen und sich auf jüngere Zielgruppen einzustimmen.

Mancherorts machte der Kulturteil einer Lifestyle-Sektion Platz, etwa bei der grössten amerikanischen Tageszeitung, «USA Today», aber auch bei vielen US-Regionalblättern. Im deutschsprachigen Raum drangen solche Themen dagegen erst auf Umwegen ins Feuilleton vor. Zunächst wurden sie meist in Supplements und nicht im Kulturteil des Hauptblatts bedient. Mehrere solcher zeitgeistgeprägten Beilagen wie das «Zeit-» und das «FAZ-Magazin» wurden inzwischen mangels Anzeigenaufkommens eingestellt. Erst danach fand Lifestyle angemessen Berücksichtigung in den «eigentlichen» Blättern.

Boulevardisierung, Regionalisierung

Mit der Boulevardisierung der Feuilletons ging zugleich deren Regionalisierung einher: Viele Feuilletonredaktionen konzentrieren inzwischen ihre Kulturberichterstattung verstärkt auf den eigenen Einzugsbereich. Tendenziell – oder, wie im Fall der «Basler Zeitung», auch explizit – wird das Feuilleton zum Veranstaltungskalender. Ist dieser journalistisch gut gemacht, steckt darin gewiss die Chance, einen grösseren Leserkreis als mit den klassischen Hochkulturthemen zur Teilhabe am kulturellen Leben zu bewegen. Indes kümmern sich viele Redaktionen bis heute eher halbherzig und lieblos um diesen genuinen Leserservice.

Die «Basler Zeitung» ist einen Schritt weitergegangen und hat aus Finanznot die Idee geboren, sich die Veröffentlichung der Kulturtipps von den jeweiligen Veranstaltern bezahlen zu lassen. Auch dies ist ein Indiz für die Ökonomisierung des Feuilletons, indes sicher nicht das neue Geschäftsmodell zur Rettung von Tageszeitungen. Zum einen wird hier genuiner Service public kommerzialisiert, auf den Leserinnen und Leser Anspruch haben und den ihnen nur die örtliche Tageszeitung bieten kann. Zum anderen verwischt so die Grenze zwischen redaktionellem Angebot und Anzeigenteil in einer Weise, die der journalistischen Glaubwürdigkeit nicht dienlich ist.

Abschied vom Rezensions-Feuilleton

Mehr und wohl auch leidenschaftlicher als alle anderen hat Frank Schirrmacher den Kulturteil der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» («FAZ») umgekrempelt und sich vom klassischen Rezensions-Feuilleton verabschiedet. Bei ihm werden Themen wie Bio- und Nanotechnologie, die Macht von Medienmoguln wie Murdoch und Berlusconi, die Ungereimtheiten der Hochschul- und Bildungspolitik ebenso wie Folter und Menschenwürde häufiger und selbstverständlicher als anderswo im Feuilleton behandelt. Auch das hat inzwischen Nachahmer gefunden.

Neue Formen des Feuilletons entstanden als Ableger von Zeitschriften und Nachrichtenmagazinen sowie in Form separater Spezialmagazine. Seit Jahren hat sich das Magazin «art» etabliert, eine Zeitschrift zur internationalen Kunstszene. Der «Spiegel» folgt dem Trend und verschickt das «Spiegel-Kultur-Extra» an seine Abonnenten, und die führende Frauenzeitschrift «Brigitte» bringt zweimal jährlich das «Brigitte-Kultur-Spezialheft» heraus. Einen neuen Weg beschreiten schliesslich betont feuilletonistisch geprägte Magazine und Modezeitschriften wie «Zoo», «Achtung» oder «Deutsch». Kultur und Lifestyle sind im Übrigen nicht nur in Frauenzeitschriften, sondern auch in Männermagazinen präsent – hier allerdings, dem klassischen Vorbild «Playboy» folgend, ins Heft integriert. Selbst Wirtschaftstitel wie die «Financial Times Deutschland» oder das «manager-magazin» haben ihre Ressorts «Leben und Style» bzw. «Weekend. Aufleben, ausgeben, aufdrehen, abheben».

Dafür verabschiedete man sich von klassischen Feuilletons, wie sie etwa die «FAZ» mit ihrer Samstagsbeilage «Bilder und Zeiten», die «Welt» mit ihrer Wochenendbeilage «Geistige Welt» und bis vor kurzem auch die «Basler Zeitung» mit ihrem international beachteten «Magazin» offerierten. Ebenso wurde das «FAZ»-Experiment beendigt, mit den «Berliner Seiten» einen neuen, feuilletonistisch geprägten Lokaljournalismus zu erfinden. Im Fall des «Zeit-Magazins» und der «Welt» machten die eingestellten Produkte immerhin umfänglichen neu konzipierten Literaturbeilagen Platz. Atypisch ist der Fall des «Blicks», der trotz seiner Positionierung als Boulevardblatt eine Kulturseite führt, die sich auch den klassischen Feuilletonthemen widmet.

Kulturjournalist als Homo oeconomicus

Die wenigen verfügbaren Daten zur Kulturberichterstattung meinungsführender Printmedien und der wichtigsten TV-Nachrichtensendungen verdanken wir dem Forschungsinstitut Medien- Tenor: Auf den Titelseiten der meinungsbildenden Pressetitel und in den Fernsehnachrichten dominiert die Alltagskultur, sprich: Film und populäre Musik. Hochkultur – wie Oper, Theater, hohe Literatur – findet sich fast ausschliesslich in den Feuilletonsektionen der Tageszeitungen. Die Medien üben nur selten Kritik an Kulturschaffenden – weit weniger als an Politikern und Wirtschaftsführern. Verrisse im Rezensionsteil sind seltener geworden. Die Themen der Alltagskultur, die sich in deutschen Fernsehnachrichten finden, widerspiegeln deutlich die kulturelle Hegemonie der USA im Film-, Musik- und Popgeschäft.

Die meisten der skizzierten Veränderungen sind Folgen einer Ökonomisierung des Medienbetriebs, die vor den heiligen Hallen der Kultur und vor den Feuilletonredaktionen nicht Halt machte. Zureichend erklären lassen sie sich indes wohl nur, wenn Kulturjournalisten nicht allein in der Opfer-, sondern auch in der Täterrolle gesehen werden. Es gilt, auch im Feuilletonredaktor den Homo oeconomicus zu erkennen. Viele Entscheide und Veränderungen im Kulturjournalismus werden plausibler, wenn wir die dort tätigen Journalisten nicht als Gutmenschen begreifen, die selbstlos der Öffentlichkeit, dem Kulturbetrieb und dem Publikum zugetan sind, sondern als Personen mit Eigeninteressen. Sie sind nicht nur Systemzwängen ausgeliefert, sie waren und sind die Gestalter des neuen Feuilletons.

Verwertung von PR-Material

Wie sehr Interessen – sei es auf Seite der Journalisten, sei es auf Seite der PR – im Spiel sind, soll exemplarisch verdeutlicht werden:

  • Der Feuilletonjournalist recherchiert ökonomisch: «Time is money.» Filmkritiken oder Buchrezensionen vieler Medien ähneln sich erstaunlich, weil Redaktoren gut aufbereitetes PR-Material nutzen, um es ab- oder umzuschreiben, statt zeitaufwendig eigene Texte zu produzieren. Weil die Kulturinstitutionen um knappe Aufmerksamkeit konkurrieren, haben viele von ihnen in den letzten Jahrzehnten ihre PR-Apparate kräftig ausgebaut, was wiederum andere zwingt nachzuziehen. Dies führt dazu, dass in den Redaktionen immer mehr Gratismaterial angeschwemmt wird, das diese übernehmen können. Medienmanager wiederum entdecken die Chance, Recherchekapazitäten in den Redaktionen einzusparen. So setzt die Aufrüstungsspirale der PR die Abrüstungsspirale in den Redaktionen in Gang.
  • Feuilletonredaktoren bewerten und gewichten Kulturthemen nach potenzieller Reichweite; es wird immer häufiger das gedruckt und gesendet, was Auflage oder Einschaltquoten verheisst. Auch die Nachrichtenwerte selbst verändern sich und werden dem Publikumsgeschmack angepasst. Die damit einhergehende, eingangs beschriebene Popularisierung des Feuilletons kann man als «Demokratisierung» schönreden, sie ist vor allem marktgerecht.

Das Feuilleton als Vermarktungsplattform

Mit den Themenschwerpunkten Pop-, Kino-, Ess-, Trink- und Alltagskultur werden die Feuilletons zu Marketingplattformen: Sender wie Klassik-Radio sind als Abspielstationen aus der Verkaufsmaschinerie der Medienkonzerne nicht mehr wegzudenken. Fernsehsendungen wie das «Literarische Quartett» oder «Lesen!» dienen ebenso dem Produkteverkauf. Selbst der Ausbau der Rezensionsteile von «Handelsblatt», «Tagesspiegel», «Zeit» und «Welt» ist wohl kein Zufall. Hinter diesen Pressetiteln stehen Zeitungshäuser, die einige der grössten Buchverlage unter ihrem Konzerndach vereinen – wobei Springer inzwischen die Verlagsgruppe Ullstein (Econ Ullstein List) abgestossen hat. Noch offensichtlicher wird es, wenn – wie im Fall der «SZ»-Bibliothek – die Redaktion selbst für die Werbung der Buchvermarkter herhalten muss. Im Feuilleton der «Süddeutschen Zeitung» werden die Werke der «SZ»-Bibliothek von hauseigenen Redaktoren und Prominenten wie Roger Willemsen rezensiert – eine clevere, aber auch problematische Verquickung von Werbung und redaktionellem Teil.

Fürstentümer und Gegengewichte

Während Magazine wie der «Spiegel» ihre Ressorts stets auf Blattlinie trimmen, führen die Feuilletons grosser Tages- und Wochenzeitungen traditionell als Fürstentümer ein relativ starkes Eigenleben. Oft bildet das Feuilleton ein linksliberales Gegengewicht zu einer liberalkonservativen Ausrichtung der Politik-, Wirtschafts- und Finanzberichterstattung. Wem etwa in der «FAZ» die Berlusconi-Berichterstattung im Politikteil zu wohlwollend vorkommt, der wird im Feuilleton Kritischeres finden.

Eine solche redaktionsinterne «Arbeitsteilung», die das Eigenleben einzelner Ressorts und damit auch die Meinungsvielfalt innerhalb einer Redaktion stützt, ist ökonomisch ebenfalls sinnvoll: Einerseits wird so der Forumscharakter eines Mediums erhalten, das Raum für unterschiedliche Sichtweisen und Interpretationen des Weltlaufs bieten sollte, wenn es nicht einen Teil seines potenziellen Publikums verprellen will. Anderseits offeriert somit zumindest je eine Zeitungs- Sektion jeweils einem Teil der Leserschaft hohe Identifikationsmöglichkeiten: Die Intellektuellen, Lehrer und Kulturschaffenden bevorzugen vermutlich das Feuilleton, während die Industriellen, Manager und Gewerbetreibenden sich eher im Wirtschaftsteil ideologisch wiederfinden. Das kann Teil einer auch betriebswirtschaftlich sinnvollen «Catch all»-Strategie sein.

Im Feuilleton wirken so – scheinbar antagonistisch – Kräfte, die letztlich doch allesamt ökonomisch bedingt sind. Einerseits gibt es eine «Gleichschaltung» durch die unsichtbare Hand des Marktes, sprich: die Zulieferungen der Pressestellen und PR-Agenturen. Anderseits können Kritik und Widerspruch aufmerksamkeitsökonomisch von Vorteil sein. Wer sich exponiert – wie Marcel Reich-Ranicki in seiner Fehde mit Martin Walser über den Roman «Tod eines Kritikers» – profitiert davon durch die erzielte Aufmerksamkeit und betreibt – nach dem Motto «Viel Feind, viel Ehr» – Markenpflege für sich selbst.

Das Feuilleton als Teil eines Kulturkartells

Der Kunst- und Kulturbetrieb wird in der Schweiz ebenso wie in Deutschland von bildungsbürgerlichen Eliten getragen, die – vor allem in «reichen» Universitätsstädten – leicht organisierbar, artikulationsfähig und gut vernetzt sind. Kulturredaktionen sind Teil dieses Netzwerks; sie werden bei drohenden Kürzungen im Kulturbereich sehr viel leichter von diesen Eliten mobilisiert, als dies etwa Wissenschaftern gelingt, wenn es um Kürzungen im universitären Bereich geht. Diese Eliten sind – wie die jüngsten Konflikte ums Feuilleton bei der «Basler Zeitung» und 1997 auch bei der «Badischen Zeitung» in Freiburg i. Br. zeigten – erstaunlich präsent und wirkungsmächtig, wenn es gilt, die Feuilletonredaktionen gegen Popularisierung und redaktionelle Sparmassnahmen zu verteidigen.

Im Fall der «Badischen Zeitung» kostete dies schliesslich den Kopf des Chefredaktors Peter Christ. Wie der Konflikt um den Relaunch der «Basler Zeitung» ausgehen wird, ist ungewiss – aber der von einer Konsumentenzeitschrift kommende neue Chefredaktor, Ivo Bachmann, hat einen schweren Stand, obschon er «strategisch» genau das macht, was den Interessen der breiten, weniger artikulationsbereiten Lesermehrheit eines Regionalblatts entsprechen dürfte: einen auf Tabloidformat geschrumpften Kulturteil mit breitem Veranstaltungskalender. Die Eliten rümpfen indigniert die Nase.

Jedenfalls stossen hier Popularisierungsstrategien des Feuilletons an Grenzen, was sich wiederum ökonomisch erklären lässt – und zwar unter Rekurs auf Mancur Olsons Theorie der unterschiedlichen Organisierbarkeit von Interessen: Gut organisierte Kleingruppen verteidigen erfolgreich ihre Privilegien gegenüber schlechter organisierbaren Interessen des breiten Publikums – egal ob es sich um Subventionen für drei Opernhäuser in Berlin oder um die Rettung eines «Feuilleton- Leuchtturms» bei einer Regionalzeitung handelt.

Schutzgebiete dank dem Kulturkartell

Ohne das Kulturelitenkartell würden die klassischen Feuilletons – also die Themen der Hochkultur – vermutlich aus weiten Teilen der Presse, des Radios und Fernsehens gänzlich verschwinden und durch Lifestyle-Sektionen ersetzt werden. Selbst bei den anspruchsvolleren überregionalen Medien dürften die Feuilletons dann wohl allmählich von «Medien- und Kulturteilen» verdrängt werden – auch wenn derzeit eher eine Gegenbewegung zu beobachten ist und in Deutschland und der Schweiz viele Verlage ihre Medienredaktionen Sparzwängen opferten. Aufmerksamkeitsökonomisch zu Ende gedacht, sprechen die Mediennutzungszahlen jedenfalls für die Verdrängung der Hochkultur aus dem Feuilleton: Wir gucken täglich zwei bis drei Stunden fern, hören drei Stunden Radio und lesen dreissig Minuten Zeitung – aber wie oft gehen wir ins Theater, ins Konzert, in die Oper?

Wahrscheinlicher ist, dass zumindest in den überregionalen Blättern und in den Nischen von 3sat und Arte die elitäre Hochkultur und die neuen, massentauglichen Lifestyle-Themen koexistieren werden. Der bisherige partielle Verdrängungsprozess lässt sich ebenso ökonomisch erklären, wie sich die Prognose der Koexistenz erhärten lässt. Einerseits wurde mit der Öffnung der Feuilletons hin zur Alltagskultur die Rezipientenbasis verbreitert. Anderseits kommen dort, wo es das Kulturkartell gibt, auch Chefredaktoren und Verlagsleiter nicht daran vorbei. Im Gegenteil – weil sie selbst meist ebenso wie die Feuilletonredaktion Teil dieses Kartells sind, möchten sie auch aus Eigeninteresse den Status quo nicht gänzlich in Frage stellen.

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