Dieser Beitrag ist Teil der Mediadelcom-Reihe.
Geschrieben von Henry Einck, Moritz Howe, Henning Middeldorf & Till Schacht
Bulgarien: Eines der ältesten Länder Europas, dessen Mediensystem viele Gemeinsamkeiten mit anderen ehemaligen Ostblock-Staaten aufweist – und doch so einzigartig ist. Ein Überblick über die verpassten Chancen der Transformation und die zukünftigen Herausforderungen im Journalismus.
Nach dem Ende der sozialistischen Volksrepublik Bulgarien musste das bulgarische politische System eine Transformation durchlaufen, die in zahlreichen anderen osteuropäischen Staaten zu beobachten war: Von einer geplanten, zentralisierten Wirtschaft und einer Diktatur hin zu einer Marktwirtschaft und einer Demokratie. Dies hatte natürlich auch enorme Auswirkungen auf das bulgarische Mediensystem.
Drei Schlüsselbegriffe beschreiben den Prozess, den das bulgarische Mediensystem ab 1990 durchlaufen sollte: Entmonopolisierung, Dezentralisierung und Liberalisierung. Wissenschaftler:innen argumentieren jedoch, dass dieser Prozess aufgrund mangelnder Ressourcen nicht effektiv durchgeführt wurde. Die Tatsache, dass es nie ein einheitliches nationales Konzept für die Bewältigung dieser systemischen Probleme gab, wurde als Hauptgrund dafür angesehen, dass die Transformation des bulgarischen Mediensystems nicht wie geplant verlief – die Aussage, die Transformation sei “chaotisch” verlaufen, ist unter Wissenschaftler:innen sehr verbreitet. Die Autor:innen der vorliegenden Mediadelcom-Studie argumentieren auch, dass die Reformen der Mediengesetze zu schnell und überstürzt erfolgten, während die Privatisierung und Liberalisierung der Medien zu langsam vor sich ging. Ein weiterer Faktor, der zum Scheitern der geplanten Transformation führte, war die fortschreitende Digitalisierung in den 1990er und 2000er Jahren. Die Autor:innen argumentieren, dass die Entwicklungen im technologischen und digitalen Bereich die Fortschritte bei der Liberalisierung, Entmonopolisierung und Dezentralisierung der bulgarischen Medien behindert hätten.
Obwohl das bulgarische Mediensystem Anfang und Mitte der 2000er Jahre bei weitem nicht perfekt war (im Sinne von entmonopolisiert, dezentralisiert und liberalisiert), hatte das Land das Ziel, so bald wie möglich Mitglied der Europäischen Union zu werden. Jedoch hat die EU bestimmte Standards für potenzielle Mitgliedstaaten. Zu diesen Standards gehört die Pressefreiheit, die nach der schwierigen Transformation des bulgarischen Mediensystems nicht in bester Verfassung war. Um EU-Mitglied zu werden, musste Bulgarien also sein Mediensystem stärker liberalisieren und entmonopolisieren – was es auch tat.
Eines der Hauptziele in dieser Übergangsphase war die Einführung und Etablierung von mehr Selbstregulierung. Um dies zu erreichen, erarbeitete der Verband der Medieneigentümer und -verleger, der schon immer erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung hatte, bereits 1998 das erste Rundfunk- und Fernsehgesetz. Im Jahr 2004 fügten sie einen Kodex der Medienethik hinzu. Doch Unstimmigkeiten zwischen den Medieneigentümer:innen störten das Funktionieren der beiden zuständigen Kommissionen, die dafür sorgen sollten, dass die Medien die ethischen Richtlinien akzeptieren. Die Autor:innen der Studie sind der Ansicht, dass diese Art der Selbstregulierung der Medien nicht zu einer Verbesserung des Medienumfelds geführt hat. Stattdessen ist das Mediensystem von einem unangemessenen Rechtsrahmen, einer Intransparenz der Eigentümerstrukturen und einem starken Einfluss von Wirtschaft und Politik gekennzeichnet. Heutzutage ist die Selbstregulierung der Medien sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Medienbranche selbst ein wenig diskutiertes Thema.
Bulgarien rutscht in der Rangliste der Pressefreiheit ab
In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag Bulgarien im Jahr 2006 auf Platz 36 von 168 Ländern. Diese positive Entwicklung des bulgarischen Mediensystems konnte leider nach dem EU-Beitritt 2007 nicht aufrechterhalten werden. Im Jahr 2008 wurde Bulgarien bereits auf den 59. Platz der Liste zurückgestuft – und befindet sich derzeit, im Ranking des Jahres 2022, auf Platz 91 von 180 Ländern. Es stellt sich in der Tat die Frage, ob die bulgarische Regierung nur vorgibt, die Situation des bulgarischen Mediensystems verbessert zu haben, was natürlich weder richtig noch falsch sein kann. Dennoch ist es eine interessante Frage, über die man nachdenken sollte.
Quantitativ kann die bulgarische Medienlandschaft als vielfältig bezeichnet werden. Nationale Statistiken unterstreichen diesen Medienpluralismus: 120 Fernsehsender, 77 Radiostationen, 209 Zeitungen. Qualitativ jedoch, wenn das gesamte Medienangebot betrachtet wird, bleibt die Vielfalt gering. Diese mangelnde Vielfalt kann beispielsweise auch durch den Faktor erklärt werden, dass staatliche Institutionen europäische Gelder direkt verteilen. Expert:innen behaupten, dass dies ein Instrument ist, um die Medien zu bevorzugen, deren Inhalte den Vorstellungen der Regierung entsprechen. Um sich den Zugang zu staatlichen Geldern zu sichern, neigen die Medienhäuser zur Selbstzensur.
Der Mangel an internem Medienpluralismus ist auch eine Frage der Medienkonzentration und der Medieneigentümerschaft. Da der Medienbesitz nicht transparent ist, ist auch die Finanzierung der Medien nicht transparent. Die Autor:innen sprechen den generellen Eindruck aus, dass die Medieninhalte von den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Eigentümer:innen und denen, die dahinter stehen, bestimmt werden.
Darüber hinaus wurden während der COVID-19-Pandemie von der Regierung Gesetze eingeführt, um die Verbreitung von Falschinformationen im Land zu verhindern. Was eigentlich die Öffentlichkeit vor Fake-News schützen sollte, wurde oft als Instrument zur Beschneidung der Meinungsfreiheit missbraucht, was den Eindruck von Zensur an dieser Stelle noch verstärkt.
In den letzten Jahrzehnten gab es zunehmende Tendenzen der Medienkonzentration in Bulgarien. Die relativ unvollständigen Datensätze über die in den verschiedenen Mediensektoren erzielten Einnahmen zeigen beunruhigende Ergebnisse: 92 % Konzentration im audiovisuellen Sektor und 57 % Konzentration im Zeitungssektor. Dies hat zur Folge, dass die Medien nicht in der Lage sind, ihre demokratische Aufgabe für die Gesellschaft zu erfüllen.
Die schwierigen Arbeitsbedingungen im bulgarischen Journalismus
Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ist die Zahl der Personen, die im Mediensektor arbeiten, relativ gering. Nur etwa 1,5 % der Erwerbstätigen in Bulgarien sind im Mediensektor beschäftigt. Studien zeigen, dass es in den bulgarischen Medien mehr Frauen als Männer gibt (54,5 % gegenüber 45,5 %). Journalist:innen in Bulgarien sind durchschnittlich zwischen 30 und 45 Jahre alt. Ein großer Teil hat einen Hochschulabschluss, aber die Zahl der Absolvent:innen des Journalismus ist rückläufig. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass der Beruf auf dem Arbeitsmarkt hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, Leistungen und Löhne nicht gut positioniert ist. Die bulgarischen Journalist:innen haben den oben beschriebenen Eindruck persönlich unterstrichen. Bei ihrer Arbeit sehen sie sich zunehmendem Druck von verschiedenen externen Akteuren und zunehmender Selbstzensur ausgesetzt. Darüber hinaus klagen sie über körperliche Übergriffe und strafrechtliche Verfolgung. Die internationale Organisation “Reporter ohne Grenzen” äußerte sich ebenfalls besorgt über die Sicherheit der journalistischen Arbeit in Bulgarien. Ihrer Meinung nach bietet der allgemeine Rechtsrahmen des bulgarischen Gesetzes zu wenig Schutz für Journalist:innen. Gleichzeitig wirken sich Korruption, unzureichende Unabhängigkeit und Medienkonzentration negativ auf die Pressefreiheit aus.
Die vorliegenden Mediadelcom-Studien untersuchten auch den bulgarischen Ansatz zur Medienkompetenz und stellten fest, dass die nationale Politik in diesem Bereich unterentwickelt ist. Zwar gibt es inzwischen Gesetze, die Jugendlichen und auch älteren Menschen Bildung in Medienkompetenz ermöglichen, doch sind diese vage gehalten, so dass eine tatsächliche Medienkompetenzerziehung nicht in angemessener Weise erfolgt. Studien haben gezeigt, dass bulgarische Kinder das Internet früh und häufig nutzen, gleichzeitig aber Defizite in der Fähigkeit aufweisen, Online-Informationen zu bewerten. Ein großer Teil der bulgarischen Bevölkerung verlässt sich auf Nachrichten aus sozialen Netzwerken. Obwohl die Verbreitung von Fake News von vielen Bulgar:innen als Problem angesehen wird, reicht die Medienkompetenz nicht aus, um konkrete Maßnahmen zur Vermeidung von Fake News zu ergreifen. Was das Niveau der Medienkompetenz angeht, so rangiert Bulgarien im Jahr 2022 im Media Literacy Index auf Platz 33 von 41 Ländern.
Weitere Herausforderungen stehen an
Die bisher vorgestellten Ergebnisse machen deutlich, dass das bulgarische Mediensystem einige alarmierende Defizite aufweist. Und da unabhängiger Journalismus überall auf der Welt zunehmend unter Druck steht, gibt es Grund zur Annahme, dass das bulgarische Mediensystem vor noch größeren Herausforderungen steht. Es gibt jedoch keinen Grund, die Hoffnung zu verlieren, dass sich die Situation der freien Presse in den nächsten Jahren verbessern wird. Mögliche EU-Gesetze, die alle Mitgliedstaaten zur Einhaltung eines bestimmten Niveaus der Medienfreiheit verpflichten könnten, sind nur ein Faktor, der hier für positive Entwicklungen sorgen könnte.
Weitere Informationen zum Mediadelcom-Projekt gibt es hier.
Alle bereits veröffentlichten Beiträge zum Projekt finden Sie hier.
Mehr über die Entwicklungen im bulgarischen Mediensystem finden Sie in der Mediadelcom-Studie.
Schlagwörter:Bulgarien, Mediadelcom, Pressefreiheit