Die Tradition der Griots beeinflusst den Journalismus in Westafrika noch heute. Diese journalistische Strömung zeichnet sich durch verstärkten Fokus auf Meinung und Bildsprache aus. Journalistik-Student Simon Kaufmann fragt: Was können wir davon lernen?
Die fortschreitende Akademisierung der Journalistenausbildung wird hierzulande von verschiedenen Parteien unterschiedlich beurteilt. Dass man den Beruf in irgendeiner Form erlernen und sich vorher auch aktiv dazu entscheiden muss, ist aber wohl unbestritten. Doch diese Auffassung ist nicht unbedingt universell. So existiert besonders in Westafrika seit der präkolonialen Zeit eine ausschließlich durch Geburtsrecht erwerbbare soziale Rolle, die der heutiger Journalistinnen und Journalisten durchaus ähnelt. Der Beruf und Titel, der heute übergreifend als „Griot“ bekannt ist, umfasst ursprünglich eine immense Anzahl von Tätigkeiten. Unter anderem sind Griots Diplomaten und Diplomatinnen, Lehrpersonen für adelige Jugendliche, Beraterinnen und Berater für die Herrschenden, aber auch Musiker, Poeten, Unterhalter und Zeremonienmeister. Und: Sie sind Reporter. Sie vermitteln zwischen Volk und Machthabenden, unterrichten verschiedene Gruppen über die Geschichte und Kultur ihres Landes und berichten über aktuelle Ereignisse.
Von Tür zu Tür
Der Ursprung der Bezeichnung Griot ist bisher nicht abschließend geklärt. Die erste Dokumentation beziffert Thomas Hale auf das vierzehnte Jahrhundert, Nennungen des vermutlich wortverwandten „guiriot“ tauchen dann von französischen Missionaren und Kolonialadministratoren im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert auf. Unklar bleibt aber, ob das Wort Griot tatsächlich aus Afrika stammt – verschiedene Kulturen haben meist auch eigenen Bezeichnungen für diese soziale Rolle – oder aus dem frühen kulturellen Austausch zwischen Europa (vor allem Portugal) und Afrika stammt.
Offiziell ist auch mein Freund Demba ein Griot. Seine Familie hat diese Aufgabe im Senegal lange Zeit ausgeführt. Er selbst hat mit der traditionellen Rolle jedoch nur wenig zu tun. Aktuell absolviert Demba eine Pflegeausbildung, will danach vielleicht noch Pflegemanagement studieren. Ein Griot bleibt er trotzdem per Geburtsrecht. Im Gespräch erzählt Demba aber auch von den Griots, die heute noch im Senegal unterwegs sind. Diese gehen durchaus auch von Tür zu Tür, um Informationen wie zur Geburt eines Kindes in der jeweiligen Gemeinschaft zu verbreiten. Dabei liegt es explizit in ihrer Verantwortung, dass die Informationen zutreffend sind und alle Personen erreichen, für die sie bestimmt sind.
Abkehr von der Pyramide
Besonders ist die Tätigkeit der Griots unter anderem, weil sie traditionell überwiegend mündlich stattgefunden hat und auch heute noch stattfindet. So ordnet Terje Skjerdal die Griots in seiner Kategorisierung der drei alternativen Journalismus-Strömungen Afrikas dem „journalism based on oral discourse“ zu. Dieser wird einerseits durch seine Mündlichkeit charakterisiert, geht aber andererseits auch darauf ein, wie Geschichten in traditioneller Form strukturiert und erzählt werden. Hierin zeichnet sich ein expliziter Gegensatz zur „umgekehrten Pyramide“ ab, die in der Journalistenausbildung und in der alltäglichen Praxis des Nachrichtengeschäfts hierzulande ein fester Bestandteil ist. Griots erzählen ihre Geschichten nach Marie-Soleil Frere weniger hierarchisch aufgebaut, sondern unter Rückgriff auf Parallelitäten und Einbindung von Wiederholungen.
Dies erklärt sich, wenn man genauer auf den diskursiven Aspekt der Tätigkeit der Griots achtet. Ihre Art der Berichterstattung ist nicht unidirektional, wie es die meisten Radionachrichten hierzulande beispielsweise sind. Die Griots inkorporieren seit Jahrhunderten das, was der Journalismus in Deutschland heutzutage massiv im Internet herzustellen versucht: Interaktivität. Ihre Vorstellungen sind keine Reden, sie ermuntern ihr Publikum dazu, sich miteinzubringen, Zwischenrufe zu geben, mitzusingen.
Wenn Elefanten streiten
Dafür beziehen sich die Griots häufig auf Sprüche und Redewendungen, die im jeweiligen Kulturkreis weithin geläufig sind. Dieses Charakteristikum hat Marie-Soleil Frere – genau wie den Rückgriff auf Wiederholungen im Geschichtenaufbau der Griots – auch in den gedruckten Zeitungen in Benin und Niger wiedergefunden. Durch Analogien aus der Natur, wie den Spruch „wenn Elefanten streiten, leidet das Gras“, werden politische Prozesse und Charakterzüge einflussreicher Personen umschrieben. Andere Metaphern werden aus dem Sport, aus der Ernährung oder auch aus dem Bereich der Krankheit im Sinne von viraler Übertragung gewisser Ideologien und Einstellungen entlehnt.
Und nicht nur im Printjournalismus werden sich Metaphern und Sinnsprüche im Sinne der Griot-Tradition zu Nutze gemacht. Eine besondere Rolle spielen diese laut Wunpini Fatimata Muhammed auch bei Radioprogrammen in indigener Sprache. Dort werden beispielsweise Menschen angeheuert, um auf Englisch getextete Skripte in Echtzeit in die jeweilige Sprache zu übersetzen. Diese anspruchsvolle Aufgabe wird durch den Rückgriff auf überlieferte und intertextuell angereicherte Formulierungen möglich gemacht, anhand derer sich aus den Informationsgerüsten der Skripte ganze Meldungen machen lassen.
Die Griots und der Lobgesang
Auch hier zeigt sich ein Unterschied zum deutschen Journalismus. Während hierzulande die „Floskel“ als unbedingt zu vermeidendes Qualitätsmanko angesehen wird, erhält sie bei den Griots und den von dieser Tradition beeinflussten Journalistinnen und Journalisten einen Eigenwert. Aufgrund weitläufiger Bekanntheit können die Metaphern vom Publikum leicht verstanden und so politische und gesellschaftliche Kontexte schnell vermittelt werden. Gleichzeitig werden Machthabende durch bildliche Sprache und einen Hauch von Satire „entsakralisiert“ und so der Kritik zugänglich gemacht. Nach Frere besteht allerdings eine Gefahr darin, dass durch ein Übermaß an Metaphorik Zusammenhänge auch zu vereinfacht dargestellt und Stereotype reproduziert werden können.
Und das ist nicht das einzige Problem, das man den Griots und den von ihnen inspirierten heutigen Journalistinnen und Journalisten in Westafrika aus Sicht der westlichen Standards anlasten kann. Der Ruf eilt ihnen voraus, im Zweifelsfall wenig mehr als Lobsänger für ihre Dienstherren, also grundsätzlich unkritisch und/oder parteiisch zu sein. Diese Einschätzung wird jedoch unter anderem von Ibrahim Seaga Shaw kontestiert. Er weist darauf hin, dass die Griots zumindest traditionell einen starken Fokus auf die sarkastische und satirische Kritik an den Mächtigen gelegt haben und dass dies auch in ihrer sozialen Rolle verankert war, solange die Kritik in den Werten der jeweiligen Gemeinschaft verankert war.
Der Fokus auf Meinung
Hierin zeigt sich eine weitere Eigenschaft der Berichterstattung, die Griots und ihre journalistischen Nachkommen betreiben: Sie legt einen erhöhten Stellenwert auf Meinung und Analyse. Dies zeigt zum Beispiel Frere auf, wenn sie darlegt, wie in Berichten beninischer Zeitungen über die neue Verfassung kaum Informationen über deren tatsächlichen Text vorkommen. Stattdessen gibt es ausführliche Kommentare zu bestimmten Eigenheiten, was jedoch eine eigenständige Vor-Information durch die Rezipientinnen und Rezipienten voraussetzt.
Die Arbeit der Griots und die Journalismus-Strömung, die sich darauf rückbezieht, unterscheiden sich systematisch von dem, was der Westen vielleicht als „reine Lehre“ bezeichnen würde. Differenzen liegen im Floskelhaften und Bildsprachlichen, in der Strukturierung von Narrativen, im Verhältnis von Meinung und Information, sowie im Ausmaß von Distanz zu relevanten Akteurinnen und Akteuren. Doch diese Differenzen sollten nicht vorschnell als negativ oder defizitär eingeordnet werden. Denn Kontextbedingungen im Sinne von ethnischer Ausdifferenzierung sowie gesellschaftlicher Dynamik können unterschiedliche Herangehensweisen durchaus rechtfertigen. Und vielleicht lohnt es sich auch, gewisse, fest in unserer Praxis verankerte, reflexartige Einordnungen, wie beispielsweise die Verdammnis jeglicher Floskelhaftigkeit oder Umschreibung, genauer zu betrachten und zu evaluieren, ob ihnen nicht auch eine positive Seite und damit ein legitimes Anwendungsfeld abgewonnen werden könnte.
Literatur
Frere, M.-S. (1999). The Journalist and the Griot: Tracing the oral Tradition in the African Press. Africa Focus, 15(1-2), 13-47. https://doi.org/10.21825/af.v15i1-2.5547
Hale, T. A. (1997). From the Griot of Roots to the Roots of Griot: A New Look at the Origins of a Controversial African Term for Bard. Oral Tradition, 12(2), 249-278.
Mohammed, W. F. (2019). Journalistic griots: The marginalization of indigenous language news and oral epistemologies in Ghana. Radio Journal:International Studies in Broadcast & Audio Media, 17(2), 235–252. https://doi.org/10.1386/rjao_00007_1
Shaw, I. S. (2009). Towards an African Journalism Model: A Critical Historical Perspective. International Communication Gazette, 71(6), 491–510. https://doi.org/10.1177/1748048509339792
Skjerdal, T. S. (2012). The three alternative journalisms of Africa. International Communication Gazette, 74(7), 636–654. https://doi.org/10.1177/1748048512458559
Schlagwörter:Afrika, Griot, Journalismus in Afrika, Senegal, Westafrika
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