In Polen wehren sich Medien derzeit, gegen die politische Einflussnahme auf unabhängige Medien. Doch in der fragmentierten Medienlandschaft fehlt bisher ein unabhängiger Presserat. Wie etabliert man ein solch wirkungsvolles Selbstregulierungsorgan und welche Rolle spielt die EU-Regulierung?
Ende Dezember 2022 leitete der Nationale Rundfunkrat (KRRiT) in Polen ein Verfahren ein gegen den Nachrichtensender TVN und TVN 24 und unterband die Ausstrahlung eines investigativen Berichtes “Czarno na białym: Siła kłamstwa” (Übers.: “Schwarz auf Weiß: Die Macht der Lüge”). Polnische Medien wollten diese Einmischung jedoch nicht hinnehmen. Sie haben sich mit der preisegekrönten Sendung solidarisiert und den Bericht auf all ihren offiziellen Seiten den Leser:innen und User:innen – trotz Ausstrahlungsverbot – zur Verfügung gestellt. Immer wieder steht der Nationale Rundfunkrat KRRiT als Regulierungsbehörde, die auch der EU-Konvention verpflichtet ist, in der Kritik, nicht die Freiheit der Medien zu vertreten, sondern die Interessen der regierenden Partei. In diesem Zusammenhang wäre ein freier und unabhängiger selbstverpflichtender Presserat ein wichtiger Faktor zur bestehenden Gesetzgebung der Medien. Ein solcher Presserat auf nationaler Ebene, welcher alle Medien eint, fehlt jedoch in Polen. Stattdessen gibt es viele fragmentierte Bewegungen und Versuche der Selbstregulierung, die jedoch nicht funktional sind. In ihrem Bericht zur neu gegründeten Arbeitsgruppe “Unabhängige Selbstregulierung in Polen” sowie der neu etablierten EU-Gesetzgebung „European Media Freedom Act“ beleuchtet Isabella Kurkowski die Hintergründe für diesen Vorstoß.
Road Map für die Etablierung einer effektiven Medienselbstregulierung in Polen
Bereits im Januar 2022 wurde während eines Workshops in Warschau, Polen eine Arbeitsgruppe von den wichtigsten Medienvertreter:innen, Journalismusausbilder:innen und journalistischen Verbänden zur unabhängigen Selbstregulierung in Polen gegründet. Der Prozess der Gründung wurde ebenfalls von den Universitäten Warschau, Breslau und dem Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus unterstützt. Während des 6. Kongresses des polnischen Kommunikationsverbandes (PCA) erhielten die Mitglieder der Arbeitsgruppe am 24. September 2022 Einblick in die Vorteile und Herausforderungen bei der Einführung von Selbstregulierungssystemen wie Presseräten oder Ombudsleuten. Internationale Experten teilten Anregungen zur Einrichtung, Wirksamkeit und Finanzierung von Selbstregulierungsmechanismen nach dem Vorbild der bewährten Presseräte z. B. in Belgien, Deutschland und Estland. In gemeinsamer Zusammenarbeit wurde ebenfalls eine Road Map für die Etablierung eines effektiven Presserates in Polen auf den Weg gebracht.
Akademische Forschung zur Medienverantwortung – eine wichtige Komponente bei der Gründung von Presseräten
Bogusława Dobek-Ostrowska beleuchtete in ihrem Vortrag die Bedeutung der Medienverantwortung und insbesondere der Selbstregulierung der Medien aus der Perspektive der kollaborativen Forschung, wie z.B. das MediaACT-Projekt. Das Projekt fand von 2010-2013 statt und umfasste neben dem Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus auch elf weitere Partner aus ost- und westeuropäischen Ländern sowie einen Partner aus der arabischen Welt. Die Forscherteams der jeweiligen Länder haben die Entwicklung und den Einfluss verschiedener Formen der Medienverantwortung analysiert und verglichen. In einer breit angelegten Feldstudie wollten sie herausfinden, welche etablierten und welche innovativen Formen der Medienselbstregulierung in den unterschiedlichen Ländern vertreten sind. Ein Ziel des Projekts war es, politische Empfehlungen für EU-Gesetzgeber im Bereich der Medien zu entwickeln. Dabei haben die Wissenschaftler:innen auch kulturelle Unterschiede berücksichtigt und erforscht, in welchen Medien- und Journalismuskulturen sich welche Formen der Medienselbstkontrolle etabliert haben. Erkenntnisse solcher Studien stellen einen wichtigen Rahmen dar für weitere Dialoge über die Rechenschaftspflicht der Medien und eine relevante Verbesserung der Selbstregulierung der Medien, wie sie aktuell in Polen stattfindet, da ein effektiver und von den Medien akzeptierter Presserat als Institution auf nationaler Ebene fehlt.
Eine weitere wichtige Studie zur Medienverantwortung, die in 2022 publiziert worden ist, liefert das Global Handbook of Media Accountability – eine vergleichende Untersuchung zum Stand der Medienverantwortung in 44 Ländern. In der Studie wurde der Fokus auch auf Polen gelegt. Susanne Fengler erläuterte auf dem 6. PTKS-Kongress die Schlüsselbegriffe Medienverantwortung, Medienselbstregulierung und Medientransparenz. In diesem Zusammenhang charakterisierte sie auch drei verschiedene Regionen der Medienverantwortung in Europa: liberale, demokratisch-korporatistische und polarisiert-pluralistische Typen. Sie stellte auch fördernde und hemmende Faktoren der Medienverantwortung vor und präsentierte die Ergebnisse der exemplarischen Studie, die die Verbreitung von Presseräten und Rundfunkräten im Laufe der Zeit zeigt. Fengler wies unter anderem auch auf die Unterschiede zwischen professionellen und dysfunktionalen professionellen Modellen der Medienverantwortung hin, mit besonderem Augenmerk auf Polen und die Ukraine, wo die Institutionen zwar funktionieren, aber nicht genügend kollektive Maßnahmen ergreifen, um staatliche Eingriffe zu verhindern. Fengler: “Das Beispiel der Türkei zeigt, wie schnell Institutionen der Medienverantwortung auch unter politischem Druck zerfallen können. Vor zwanzig Jahren galt das türkische System der Medienverantwortung als Modell für die Region – mit einem unabhängigen Presserat, Ombudsleuten und ähnlichem. Heute scheinen alle Media Accountability Instrumente ‚gefangen‘ zu sein. Dies unterstreicht, wie wichtig es für die Medienfreiheit ist, professionelle und unabhängige Institutionen für die Medienkontrolle zu gewährleisten.” In ihrer Untersuchung für das Kapitel Polen im Global Handbook of Media Accountability fanden die Forscher Michał Głowacki und Michał Kuś einen breiteren Kontext für ihre Untersuchung heraus, der mit dem hohen Maß an politischer und sozialer Polarisierung von Mediengruppen, verbaler Aggression und Doppelmoral zusammenhängt. Sie identifizierten auch neue Instrumente und Akteure der Medienverantwortung: Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen (wie Medienbeobachtung und Faktenverifizierung), soziale Medien, Medienjournalismus und akademische Akteure als wichtige Instrumente.
Das Europäische Medienfreiheitsgesetz – eine Lösung für die angewandte Medienselbstregulierung?
Isabella Kurkowski, regionale Koordinatorin des Workshops, hob die Empfehlungen von Medienpraktiker:innen und Akademiker:innen in solchen Studien als relevant hervor, insbesondere im Schatten des kürzlich auf EU-Ebene verabschiedeten Medienfreiheitsgesetzes “European Media Freedom Act”. Kurkowski erklärte, dass der Media Freedom Act die Rolle der Medienselbstregulierung auf EU-Ebene als wichtiges Instrument der Medienfreiheit und als kooperatives und notwendiges Pendant zum reinen Regulierungsprozess hervorhebt. Der Schutz der Medienfreiheit und des Medienpluralismus steht dabei im besonderen Augenmerk der EU sowie der verschiedenen Gesetze, die seit 2018 auf EU-Ebene eingeführt worden sind:
In ihrem Vortrag zum neu verabschiedeten EU-Medienfreiheitsgesetz hob Kurkowski hervor, dass die Selbstregulierung erstmals tatsächlich zu einem wichtigen Bestandteil der EU-Gesetzgebung geworden ist, die ebenfalls künftige EU-Förderung in Höhe von 500.000 EUR für Selbstregulierung beinhaltet.
Theorie und Praxis der Medienselbstregulierung in Polen
In diesem Panel wurde aus der Sicht von Medienpraktikern geklärt, welche Art von anwendbaren Instrumenten der Medienverantwortung derzeit in Polen verwendet werden. In diesem Zusammenhang stellte Michał Chlebowski den Ansatz der TVN Discovery Group vor, bei der er als Koordinator für Standards und Praktiken des Senders TVN tätig ist. Im Jahr 2018 wurde ein neues Projekt innerhalb der Abteilung für Standards und Praktiken als Instrument der internen Medienselbstregulierung eingeführt: Seine Abteilung sowie die Redaktion koordinieren die Arbeit der Journalist:innen auf drei verschiedenen Ebenen:
- Einhalten der internen ethischen Regeln;
- On-Air-Kontrolle durch Überprüfung von Beschwerden aus dem Publikum während der Sendung;
- Beratung und Teilnahme an den Redaktionssitzungen und Unterstützung bei der Berichterstattung im Einklang mit dem Ethikkodex.
Chlebowski hob im Gespräch hervor, um die besten Lehren aus der selbstregulierenden Tätigkeit zu ziehen, finden einmal im Monat interne Treffen statt, um über ethische Fehler im Team zu diskutieren.
Damian Flisak, Leiter der Public Affairs Abteilung von Ringier Axel Springer Polska, betonte, dass es in polnischen Medien, die bereits seit Jahrzehnten gut funktionieren, keinen Bedarf für eine weitere Ebene der Medienselbstregulierung gibt, wie sie im Europäischen Medienfreiheitsgesetz vorgeschlagen wird. Er gibt zu bedenken, dass eine externe Regulierung die bereits gut entwickelten und bewährten internen Selbstregulierungsmechanismen in Redaktionen beeinträchtigen könnte. Er verweist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass offenere Konsultationen zwischen der EU und den privaten Medien in jedem einzelnen EU-Mitgliedsland weiterhin notwendig sind.
Bedingungen für die Einrichtung eines effektiven Selbstregulierungsmechanismus in Polen
Im zweiten Teil des Workshops – einem internen Arbeitsgruppentreffen, an dem alle Akteure der Arbeitsgruppe in Sopot teilnahmen, wurde ein erster Fahrplan und ein Modell für die Einrichtung eines unabhängigen Presserats in Polen nach internationalen Standards und Best Practices erarbeitet.
Die Arbeitsgruppe folgte dabei den Modellen von bereits erfolgreich etablierten Presseräten wie z.B. flämischer Presserat oder auch deutscher Presserat. Jedoch wurden auch zahlreiche neue Ansätze benannt wie z.B. journalistisch tätige Freiberufler:innen einzubeziehen, das Beschwerdeprozedere mit Expert:innengruppen wie z.B. Psycholog:innen zu verlinken und den Presserat räumlich an eine Universität anzudocken. Als wichtiger Beitrag wurde auch die proportionale Finanzierung des Rates durch die Mitglieder hervorgehoben und dass seine Anschubfinanzierung aus EU-Mitteln ebenfalls in Betracht gezogen werden kann.
Adam Szynol, Assistenzprofessor der Universität Breslau erklärte, die Herausforderung bestehe nun darin, die Öffentlichkeit und weitere Akteure polnischer Medien und Zivilgesellschaft in den Prozess der Einrichtung eines wirksamen Systems der Medienverantwortung in Polen einzubinden. Michał Chlebowski als Vertreter von TVN bestärkte die Aussage wie wichtig es sei, bedeutende Akteure des polnischen Medienmarktes von der Einrichtung eines nationalen Presserates zu überzeugen und einzubeziehen, um künftig eine effektive Medienverantwortung zu schaffen. Die Arbeit des Presserats sei eine kontinuierliche Arbeit, die eine ständige Anpassung erfordere. Dies setzt jedoch eine gute gemeinsame Zusammenarbeit und Anerkennung der Medien in Polen voraus. Michał Jaszewski, Rechtsberater beim Verband Polnischer Journalisten (SDP), wies darauf hin, dass die Repräsentativität der verschiedenen Interessengruppen sowie der Medien und Journalist:innen selbst ein Schlüsselelement ist. Denn, nur wenn alle Akteure einbezogen werden kann der Presserat in Polen verwirklicht werden.
In unserem Beitrag „Stärkung der Medienselbstregulierung in Tunesien“ lernen Sie mehr über die Herausforderungen unabhängiger Presseräte.
Referenzen:
Media solidaryzują się z TVN. Zobacz reportaż “Siła kłamstwa“.
CENTRAL EUROPEAN JOURNAL OF COMMUNICATION, Volume 15, Number 2 (31), Spring 2022.
European Commission (2022, September 16). European Media Freedom Act: Commission proposes rules to protect media pluralism and independence in the EU.
Susanne Fengler, Tobias Eberwein and Matthias Karmasin (eds) (2021). The Global Handbook of Media Accountability. Abingdon and New York: Routledge.
Reporter ohne Grenzen (2022). Rangliste der Pressefreiheit.
Schlagwörter:Medienselbstregulierung, Polen, Pressefreiheit, Presserat