Online-Konferenz sammelt lateinamerikanische Perspektiven aus dem Global Handbook of Media Accountability.
Übersetzt aus dem Englischen von Pauline Wörsdörfer.
Freiheit kommt mit Verantwortung: Die Ideale dessen, was Journalisten und Medien tun sollten, können sich von dem unterscheiden, was die gesetzlichen Vorschriften zulassen. Die Medienethik zielt darauf ab, diese normative Idee des Journalismus als lebenswichtige Dienstleistung für die Gesellschaft zu definieren, aber ihre Anwendung kann durch kommerzielle oder politische Interessen oder schlichte Unkenntnis auf Seiten der Medienschaffenden und Unternehmen behindert werden.
Die Media Accountability soll dieses Problem lösen: Der Begriff beschreibt alle Arten von Aktivitäten, die darauf abzielen, die Medien zur Verantwortung zu ziehen und im Einklang mit professionellen Normen zu handeln. Obwohl an solchen Aktivitäten verschiedene professionelle, wirtschaftliche, politische und soziale Akteure beteiligt sein können, hat sich die Debatte über Medienverantwortung lange Zeit auf den westlichen und/oder europäischen Kontext konzentriert. Das Global Handbook of Media Accountability, das 2022 veröffentlicht wurde, zielt auf eine globale Perspektive ab, die alle Weltregionen umfasst.
Eine kürzlich von der Universität Brasília, der Universidad Católica de Santísima Concepción und der Universität UNIACC aus Chile organisierte Online-Konferenz befasste sich mit den Ergebnissen des Handbuchs für Lateinamerika und brachte viele der an der Erstellung des Handbuchs beteiligten Experten zusammen. In zwei Sitzungen wurden Aktivitäten im Zusammenhang mit Medien und Rechenschaftspflicht in Lateinamerika anhand der Realität in Ländern wie Brasilien, Argentinien, Kolumbien, Chile, Costa Rica und Mexiko diskutiert. Ein zentrales Ergebnis: In Ermangelung einiger Institutionen zur Rechenschaftspflicht, die auf einer starken journalistischen Professionalität aufbauen, haben andere Aktivitäten in Lateinamerika an Bedeutung gewonnen.
Globaler Rahmen und kurzer Einblick in aktuelle europäische Forschung
Als Rahmen für diese Länderperspektiven begann die Veranstaltung mit einem Überblick über den Ansatz des Handbuchs und einem Ausblick darauf, wie es für weitere Forschungen, die derzeit im europäischen Kontext durchgeführt werden, genutzt werden kann. Marcus Kreutler vom Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus an der TU Dortmund nahm an dem Online-Seminar teil, um diesen Ausblick zu geben.
In seiner Präsentation erläuterte Kreutler das im Buch vorgeschlagene Modell der Rechenschaftspflicht und wie es dazu beitrug, Instrumente und Beispiele in lateinamerikanischen Ländern zu identifizieren. Er gab auch einen Einblick in das laufende Mediadelcom-Projekt, in dem der im Handbuch verwendete theoretische Rahmen angewandt wird, um die Rechenschaftspflicht der Medien in 14 europäischen Ländern zu erforschen, wobei ein innovativer Schwerpunkt auf den nationalen Überwachungskapazitäten in diesem Bereich sowie auf den Risiken und Chancen für die öffentliche Kommunikation liegt.
In den länderspezifischen Präsentationen berichteten die Forscher über die derzeitige Situation der Rechenschaftslegung in ihren jeweiligen Ländern bzw. über den Regulierungs- und Selbstregulierungsrahmen sowie über die Partizipationsmöglichkeiten für das Publikum.
Die Studien wurden in Chile (von Constanza Hormazábal und Fernando Gutiérrez), Argentinien (Cynthia Ottaviano), Brasilien (Fernando Oliveira Paulino, Mariella Bastian und Renata Gomes), Mexiko (Lenin Martell und Laura Martínez Aguila), Costa Rica (Patrícia Vega Jiménez , Giselle Boza Solano, Liliana Solís Solís, Luisa Ochoa-Chaves und Lidieth Garro-Rojas) und Kolumbien (Diego García Ramírez, María Patrícia Téllez und Edgar Allán Niño Prato) entwickelt.
Media Accountability unter den Bedingungen starker Medienkonzentration
In Lateinamerika gibt es eine historische Landschaft der Eigentumskonzentration, einen geringen Grad an ethischer Konvergenz und eine bedeutende politische Nutzung der Medien. In diesem Szenario heben wir die Bemühungen der Medien und die Bereitstellung von Berichten auf der Grundlage von Aktivitäten von Observatorien und Publikum oder öffentliche Verteidiger (Institutionen mit ähnlichen Funktionen, die Ombudsstellen) mit wichtiger Beteiligung von sozialen Organisationen, Lehrer und Studenten entwickelt.
In Argentinien ist die starke Position der Clarín-Gruppe in der aktuellen Medienlandschaft bemerkenswert. Die Nachbarländer Argentiniens weisen gemeinsame Merkmale auf. In Brasilien und Chile sind Medienunternehmen in Familienbesitz auf dem Kommunikationsmarkt präsent, die den größten Anteil der Medienangebote kontrollieren, was zu einem oft politisch und persönlich beeinflussten Inhaltsangebot führt und die Journalisten vor größere Herausforderungen stellt, wenn sie angesichts des Marktdrucks ethischen Grundsätzen folgen wollen. In Costa Rica und Kolumbien ist die Eigentumskonzentration im Radiosektor besonders ausgeprägt.
Ungeachtet weiterer Themen wie der Politisierung des Mediensektors, veralteter Mediengesetze, sozialer Ungleichheit, Bedrohungen der Pressefreiheit und mangelnder Sicherheit für Journalisten bei der Ausübung ihres Berufs, die in mehreren lateinamerikanischen Ländern zu beobachten sind, bleibt die Eigentumskonzentration ein Schlüsselfaktor, der sich auf die Infrastrukturen der Medienverantwortung auswirkt. Trotz dieses Szenarios haben vor allem Fachleute, Mitglieder der Zivilgesellschaft und Akademiker die Schaffung und Anwendung von Praktiken wie Ombudspersonen, Initiativen zum Schutz des Publikums und Medienbeobachter angeregt.
Aktuelle Entwicklungen: Neue Instrumente für drängende Probleme
Dies ist von besonderer Bedeutung für den Bereich der Selbstregulierung der Medien und für die Kommunikationspolitik. In Mexiko steht die Schaffung von Instrumenten zur Rechenschaftspflicht der Medien, wie z. B. Publikumsbeauftragte, in direktem Zusammenhang mit den Reformen der letzten Jahre und der Schaffung des Gesetzes für Kommunikation und Informationszugang. Sie sind für die Entgegennahme und Vermittlung von Beschwerden und Vorschlägen des Publikums in Bezug auf die von den Fernseh- und Radiosendern entwickelten Inhalte und Verfahren zuständig.
Folglich spielen andere Elemente der Medienverantwortung in den lateinamerikanischen Ländern eine besondere Rolle. Dazu gehören die Medienbeobachtungsstellen, die in der Region eine wichtige Rolle spielen, indem sie veröffentlichte journalistische Inhalte verfolgen und kritisieren und Debatten über die Rolle der Medien anregen.
Vor allem in Brasilien, wo Wissenschaftler und akademische Einrichtungen in diesem Bereich aktiv sind, haben die Medienbeobachter sich in Debatten eingebracht und Beiträge für die Berufsausbildung an den Kommunikationsschulen eingesetzt. Darüber hinaus können Transparenzinstrumente wie Ethikkodizes oder die Offenlegung von Eigentumsverhältnissen wesentlich zu einer funktionierenden Infrastruktur für die Rechenschaftspflicht der Medien beitragen und die Möglichkeiten des Publikums verbessern, sich einzubringen und mit den Redaktionen in Kontakt zu treten.
Wie wirksam sind freiwillige Regeln?
Die geringe deontologische Konvergenz zwischen Unternehmern, Journalisten und Kommunikationsfachleuten ist ein typisches Merkmal lateinamerikanischer Länder und kann anhand der chilenischen Realität veranschaulicht werden. Das derzeitige chilenische System verfügt über eine Struktur, die auf Selbstregulierung abzielt, die aber, da sie sowohl für die Fachleute als auch für die Medien freiwillig ist, nicht zu einem wirksamen Organ für die soziale Verantwortung der Medien wird, da ihre Empfehlungen nicht unbedingt von den Medien befolgt werden.
Darüber hinaus wurde auf dem Seminar erörtert, wie die traditionellen Instrumente der Medienverantwortung an die Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern angepasst werden. In dem stark politisierten Mediensektor Argentiniens, der durch den starken Einfluss politischer Akteure gekennzeichnet ist, wurde beispielsweise die Position des “Public Defender” (Öffentlicher Verteidiger der audiovisuellen Kommunikationsdienste) geschaffen. Ein anderes Beispiel sind “public ombudspersons”, die im mexikanischen Mediensystem dezentralisiert organisiert sind.
Die Bürger- oder Publikumsbüros tragen eine wichtige Verantwortung für die Entgegennahme und Vermittlung von Beschwerden und Vorschlägen und sind Kanäle zur Förderung des Dialogs über Inhalte und zur Ermutigung der Bevölkerung, sich aktiver an den Medien zu beteiligen. Darüber hinaus wurden diese Erfahrungen in Medienkompetenz-Aktivitäten einbezogen, wodurch eine aktive Stimme für Gemeinschaften und ihre Mitglieder möglich wurde.
Die Veranstaltung auf Spanisch kann über zwei Links abgerufen werden: https://www.youtube.com/watch?v=_V9LUcMg794&t=5503s und https://www.youtube.com/watch?v=cg1EDZ0sVRA
Schlagwörter:Lateinamerika, Media Accountability, Medien, Verantwortung, Vortrag