In der Tagesschau und auf tagesschau.de soll neutral, präzise und möglichst schnell informiert werden. Darüber sind sich sowohl Journalisten als auch Nutzer der beiden Nachrichtenangebote einig. Aber während die Nutzer teilweise erwarten, dass die Journalisten mit ihnen in einen Austausch über aktuelle Themen treten, betrachten diese den Dialog mit den Bürgern nicht als ihre Aufgabe.
Das ist eines der ersten Ergebnisse des laufenden Forschungsprojekts „Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums. Journalismus unter den Bedingungen des Web 2.0“ von Wiebke Loosen, Jan-Hinrik Schmidt, Nele Heise und Julius Reimer vom Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg. Julius Reimer erläutert im Folgenden, wo die Erwartungen und Einstellungen des Publikums der Tagesschau mit denen der Journalisten übereinstimmen und wo sie voneinander abweichen.
Es ist bereits so etwas wie ein Allgemeinplatz, dass die Grenze zwischen Journalisten und ihrem Publikum verschwimmt: Vor Aufkommen des Internet waren nur die Medienschaffenden tatsächlich Medienschaffende, nur sie produzierten journalistische Beiträge, die dann von Zeitungslesern, TV-Zuschauern und Radiohörern ausgewählt und rezipiert wurden. Abgesehen von gelegentlichen Leserbriefen, Anrufen engagierter Hörer in speziellen Call-in-Shows im Radio und ein paar Straßenumfragen im TV-Magazin kam das Publikum im Umfeld journalistischer Beiträge kaum vor.
Im Netz, insbesondere im Social Web, werden Nutzer nun aber selbst journalismusähnlich aktiv, kommentieren, bewerten und verbreiten Beiträge, dienen als Quelle oder als Impulsgeber für neue Themen, unterstützen bisweilen sogar bei Recherche und Produktion.
Zwar gehen diese Entwicklungen hin zu mehr Publikumsbeteiligung maßgeblich von Online-Medien aus, sie werden aber auch relevant für traditionelle Massenmedien: Das Publikum lernt im Netz die neuen Möglichkeiten kennen und erwartet diese in der Folge auch bei Print-, TV- und Radioangeboten.
Das scheinen auch die Redaktionen zu ahnen: Um potentielle und Stammnutzer mit erweiterten Ansprüchen nicht zu verprellen, bieten Zeitungen, Nachrichtensendungen usw. (zumindest) auf ihren Begleit-Webseiten und Social Media-Profilen Kommentarbereiche, Kontakt zur Redaktion und vieles mehr an. In den Redaktionen entstehen dadurch neue Aufgaben wie die des Community Managers oder Social Media-Redakteurs, entsprechend dürfte sich das Rollenbild von Journalisten verändern.
Mit den neuen Möglichkeiten verschieben und erweitern sich also die Aktivitäten auf beiden Seiten ebenso wie die Erwartungen des Publikums an die Journalisten und umgekehrt. Doch welche der möglichen Beteiligungsmöglichkeiten bieten Journalisten tatsächlich an? Und wie nutzt sie das Publikum? Warum tun die beiden Seiten das und was erwarten sie von ihrem Gegenüber? Unter massenmedialen Bedingungen hatten Journalismus und Publikum Jahrzehnte lang Zeit, ihre Erwartungen (wenigstens weitgehend) aneinander anzugleichen und ihr Verhalten, Angebot und Nachfrage aufeinander einzustellen. Werden neu entstandene Publikumsansprüche nun massenweise enttäuscht, falsche oder zu wenig Beteiligungsformen zugelassen? Oder bieten die Redaktionen im Gegenteil vielleicht mehr an als von Nutzern gewollt?
Diese Fragen stehen im Zentrum des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für zweieinhalb Jahre geförderten Forschungsprojekts „Die (Wieder-)Entdeckung des Publikums. Journalismus unter den Bedingungen des Web 2.0“ am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung in Hamburg. Die Antworten suchen wir exemplarisch bei vier etablierten Medien: bei der Tagesschau, einem wöchentlich ausgestrahlten ARD-Polittalk, einer überregionalen Tageszeitung und der Wochenzeitung der Freitag sowie den jeweiligen Online-Pendants.
Für die erste Fallstudie bei Tagesschau und tagesschau.de sind die standardisierten Online-Befragungen (Journalisten: n=63; Nutzer von tagesschau.de: n=4.686), Tiefen-Interviews (mit zehn TV- bzw. Online-Journalisten und sechs Nutzern unterschiedlicher Angebote der Tagesschau) sowie explorativen Analysen von Kommentaren auf tagesschau.de und einzelnen Ausgaben der 20-Uhr-Tagesschau inzwischen ausgewertet. Hier berichten wir über einen Teil der Ergebnisse: Wo stimmen die Erwartungen und Einstellungen des Publikums mit denen der Journalisten überein und wo weichen sie voneinander ab?
Weitgehend einig sind sich Journalisten und Publikum darüber, welche Aufgaben die Tagesschau hat: In der Nachrichtensendung und auf tagesschau.de sollen komplexe Sachverhalte erklärt und vermittelt sowie neutral, präzise und möglichst schnell informiert werden. Auch denken beide Seiten, dass es nicht das Ziel sein sollte, Unterhaltung und Entspannung zu bieten. Doch es zeigen sich auch Unterschiede: So zählt es für die befragten Journalisten nicht zu ihrem Auftrag, der Öffentlichkeit ihre eigenen Ansichten zu präsentieren oder mit den Bürgern in einen Dialog über aktuelle Themen zu treten. Nutzer hingegen erwarten dies teilweise schon. Außerdem wollen sich die Journalisten eher auf Nachrichten konzentrieren, die für ein möglichst breites Publikum interessant sind, als das Publikum dies erwartet. Allerdings gelten die Ergebnisse nicht für alle Journalisten und Nutzer gleichermaßen: Die Social Media-Redakteure einerseits und stärker aktive Nutzer andererseits finden, dass zur zentralen Aufgabe der Informationsvermittlung zunehmend auch partizipationsbezogene Leistungen treten sollten.
Fragt man die Journalisten, welche Beteiligungsmöglichkeiten das Publikum erwartet, und vergleicht dies mit dem, was sich das Publikum tatsächlich wünscht, zeigt sich ebenfalls weitgehende Übereinstimmung. Allerdings überschätzen die Journalisten den Wunsch ihrer Nutzer, mit anderen Zuschauern/Nutzern in Kontakt treten und sich austauschen zu können. Gleichzeitig unterschätzen sie das Bedürfnis ihres Publikums, Redaktionsmitglieder vorgestellt zu bekommen und nähere Informationen über die Quellen eines journalistischen Beitrags zu erhalten. Die Erwartungen bezüglich der Transparenz journalistischen Arbeitens sind somit beim Publikum höher als von den Journalisten angenommen.
Deutlicher auseinander liegen die seitens der Journalisten vermuteten und die seitens der Nutzer tatsächlich genannten Motive für Beteiligung: Die Nutzer des Kommentarbereichs auf tagesschau.de geben an, vor allem öffentlich ihre eigene Meinung oder als wichtig empfundene Themen einbringen sowie im Dialog mit anderen etwas lernen und Denkanstöße erhalten zu wollen. Auch aus Sicht der Journalisten wollen aktive Nutzer vornehmlich ihre Meinung äußern, an zweiter und dritter Stelle unterstellen sie dem Publikum aber auch, schlicht „Dampf ablassen“ bzw. auf Fehler in Beiträgen hinweisen zu wollen.
Von Journalisten und Nutzern wurden auch noch allgemeinere Einschätzungen von Publikumsbeteiligung bewertet. Hiernach sind sich beide einig, dass Partizipation im Journalismus öffentliche Information und Meinungsäußerung ein wenig demokratischer macht und die Berichterstattung inhaltlich ergänzen kann, dass die Journalisten bei der Auswahl und Bearbeitung von Themen aber letztlich die Oberhand behalten. Aus beider Sicht eignen sich partizipative Angebote tendenziell dazu, neue Zielgruppen anzusprechen, nicht aber dazu, in der Redaktion Kosten einzusparen.
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Weitere Resultate der Fallstudie zur Publikumsbeteiligung bei der Tagesschau finden sich im Forschungsbericht. Infos zum Stand der anderen drei Fallstudien, aber auch zu aktuellen Entwicklungen rund um (partizipativen) Journalismus gibt es im Projektblog des Forschungsteams des Hans-Bredow-Instituts und auf Twitter unter @jpub20team.
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