Sie haben wahrscheinlich den Namen Mahsa Amini gehört, die 22-jährige Kurdin, die im September 2022 von der iranischen Sittenpolizei ermordet wurde. Ihre Ermordung löste die größten Massenproteste im Iran seit 2014 aus.
Ebenso sind Sie vielleicht mit dem Völkermord an den Uiguren vertraut, der sorgfältig geplanten und seit 2017 durchgeführten Operation der chinesischen Behörden zur „Ausrottung des muslimischen Radikalismus“ in Xinjiang.
Vielleicht sind Sie auch schon auf eine aktuelle Untersuchung gestoßen, die gezeigt hat, dass die Zahl der in der Ukraine getöteten russischen Soldaten bisher mehr als 47.000 beträgt, fast achtmal höher als die von der russischen Regierung angegebene offizielle Zahl
Was Sie vielleicht nicht wissen: Das Medienhaus, das die Nachricht von der Ermordung Mahsa Aminis verbreitete, IranWire, das Medienhaus, das am konsequentesten über den Völkermord an den Uiguren berichtet hat, Radio Free Asia, sowie die Medien, die die Propaganda des Kremls über die Opfer in der Ukraine entlarvt haben, Meduza und Mediazona: Sie alle sind Medien im Exil.
Sie gehören zu den 98 aus dem Exil arbeitenden oder dort gegründeten Medien, die ich im Rahmen eines vom Media Journalism Research Centre unterstützten Forschungsprojekts identifiziert habe. Es zielt darauf ab, das wenig erforschte Phänomen der Medien im Exil zu kartieren, zu klassifizieren und zu untersuchen.
Nach meinen vorläufigen Recherchen stammen diese 98 Medien aus 33 Ländern. Unter ihnen führt Russland mit 15 Exilmedien die Liste der Herkunftsländer an, gefolgt von Nicaragua (10), Iran und der Türkei (je 8), Weißrussland und Sudan (je 5).
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Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine, der die wenigen verbliebenen unabhängigen Zeitungen zum Verlassen Russlands zwang, ist das Phänomen ins internationale Rampenlicht gerückt. Im vergangenen Juni veröffentlichte Reporter ohne Grenzen die erste interaktive Karte zum Thema Journalismus im Exil.
Ein schmaler geopolitischer Grat
Die Wahl des Exillandes ist besonders wichtig. Einige Medien im Exil wählen Ziele, die geografisch nahe an ihrem Herkunftsland liegen. Aber eine wachsende Zahl flieht in Länder, in denen die Pressefreiheit besser geschützt ist, unabhängig von der Entfernung, die sie von ihrer Heimat trennt. Dies erklärt, warum die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Deutschland, Frankreich und die Tschechische Republik zusammen 41 der Medien im Exil beherbergen, obwohl sie nicht an ein Herkunftsland grenzen.
Auch wenn der „geopolitische Faktor“ fast nie ausdrücklich erwähnt wird, muss er berücksichtigt werden, um den Handlungsspielraum der Exilmedien vollständig zu erfassen. Von diesen Medien wird erwartet, dass sie auf die Empfindlichkeiten und außenpolitischen Prioritäten der Länder achten, in denen sie Zuflucht gefunden haben und deren Beziehungen zu ihren Heimatländern oft mehr als angespannt sind. Die Erfahrung von TV Rain ist ein paradigmatisches Beispiel dafür, als wie heikel sich dieses Gleichgewicht erweisen kann. Nachdem dieses russische Exilmedium zunächst in Lettland Gastfreundschaft gefunden hatte, wurde ihm die Sendelizenz entzogen: Es hatte eine Reportage ausgestrahlt, in der die russische Armee vom Reporter als „unsere Armee“ bezeichnet wurde.
Wenn schmutzige Wäsche einfach im Ausland gewaschen werden kann
Im Großen und Ganzen tragen Exilmedien dazu bei, das Bild ihres Heimatlandes im Ausland zu prägen. Das gilt insbesondere in westlichen Ländern, wo offizielle Berichte von Behörden nicht-demokratischer Regime im Allgemeinen mit Misstrauen, wenn nicht gar mit völligem Unglauben aufgenommen werden.
Diese Medien richten sich jedoch in erster Linie an das interne Publikum, da sie ihre Landsleute über Fakten informieren, die das heimische Regime lieber vor der Öffentlichkeit verbergen würde.
Die meisten Medien im Exil berichten eher über politisch heikle Themen wie Menschenrechtsverletzungen, Proteste und Korruption. Den Antworten auf die Umfrage zufolge, die ich in den letzten zwei Monaten unter ihnen durchgeführt habe, ist allerdings nur die Hälfte von ihnen investigativ tätig. Einige Exilmedien berichten auch über profanere Themen wie Sport, Kultur und Freizeit.
Ein weiteres gemeinsames Merkmal, das sich in meiner Studie herauskristallisiert hat: Die meisten Exilmedien sind derzeit auf Fördermittel als Haupteinnahmequelle angewiesen; nur wenige schaffen es, Einnahmen aus anderen Formen wie Crowdfunding-Kampagnen und Werbung zu erzielen. Dies stellt eine strukturelle Schwäche der Exilmedien dar, da Fördermittel in der Regel unbeständig sind und den Redaktionen nur selten eine langfristige Planung ermöglichen.
Die Landschaft der Medien im Exil ist jedoch sehr zersplittert. Die Medien, die ich bisher im Rahmen meines Projekts identifiziert habe, unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf ihre Größe, ihre Reichweite und ihre Möglichkeiten, aus dem Ausland zu berichten, sondern auch in Bezug auf ihre Herkunftsregion und das Land, in dem sie Zuflucht gefunden haben.
Während viele russische Sender beispielsweise auf eine relativ hohe Internetverbreitung in Russland zählen können, die es ihnen ermöglicht, mit KI-gestützten Tools zur Umgehung der ausgefeilten Zensur zu experimentieren, sind die meisten afrikanischen Exilmedien auf Radiosendungen, WhatsApp-Ketten und die Weiterverbreitung in sozialen Medien angewiesen. Es ist bezeichnend, dass sechs der zehn Sender, die „Radio“ in ihrem Namen tragen, in Afrika südlich der Sahara tätig sind.
In einigen Ländern wird diesen Medien sofort ein Platz in den lokalen Nachrichtenredaktionen angeboten, wo sie ihre Arbeit in relativ ähnlicher Weise fortsetzen können, wie sie es vor ihrem Exil getan haben. In anderen Ländern werden die Fachleute, die für diese Medien arbeiten, als Flüchtlinge behandelt, und sie müssen sich auf Nichtregierungsorganisationen und lokale Vereinigungen verlassen, um einen Platz zu finden, Zuschüsse zu beantragen, sich zu registrieren und endlich arbeiten zu können.
Überlebenspaket für Medien im Exil: Zusammenarbeit, Vertrauen, Aktivismus
Dieser letzte Punkt steht in direktem Zusammenhang mit einem der charakteristischen Merkmale von Medien im Exil: Zusammenarbeit.
Der Mangel an Ressourcen und die Herausforderungen auf menschlicher, psychologischer und sozialer Ebene, die die Erfahrung der meisten Medien im Exil kennzeichnen, veranlassen sie dazu, Partnerschaften mit gleichgesinnten lokalen und transnationalen Medien einzugehen. Der „kollaborative Journalismus“, der die Bündelung von Ressourcen und Fachwissen beinhaltet, ist für Medien mit begrenzten personellen und finanziellen Mitteln eher eine strategische Notwendigkeit als eine Option.
Die Situation in Costa Rica ist in dieser Hinsicht beispielhaft. Angesichts der allgemeinen Verschlechterung der Medienfreiheit in ganz Mittelamerika ist Costa Rica zu einem Leuchtturm der Pressefreiheit in der Region geworden. Im Juli 2023 beherbergt das Land acht Exilmedien, die zumeist aus Nicaragua stammen. Da Zentralamerika eine relativ kleine Region ist (seine Fläche ist kleiner als die Frankreichs) und fast ausschließlich spanischsprachig ist, entsteht in Costa Rica ein wichtiger Stützpunkt des transnationalen investigativen Journalismus – eine von Exilmedien angeführte Initiative.
Eine zweite Form der Zusammenarbeit, die für Exilmedien von zentraler Bedeutung ist, ist die mit Quellen im Herkunftsland: Informanten, Augenzeugen und Informanten (Crete-Nishihata & Tsui 2021; Porlezza & Arafat 2022). Diese Quellen sind für jede Art von investigativer Berichterstattung von entscheidender Bedeutung, aber ihre Relevanz wird noch größer, wenn die Medien keinerlei Zugang zu dem Land haben.
Vertrauen ist also ein grundlegender Bestandteil der Arbeit von Medien im Exil. Reporter im Ausland müssen vertrauenswürdige Beziehungen zu lokalen Quellen aufbauen und pflegen und gleichzeitig solide Mechanismen zur Überprüfung von Fakten und zur Verifizierung einrichten. Es ist nicht immer einfach, ein Gleichgewicht zu finden, aber die journalistische Autorität von Medienschaffenden, die in ihren Heimatländern oft als “ausländische Agenten” bezeichnet werden, wird ständig in Frage gestellt und delegitimiert. Diese Situation verlangt von ihnen, dass sie bei ihrer Berichterstattung ein Höchstmaß an Genauigkeit walten lassen.
Es wurde beobachtet, dass die Erfahrung von Medien im Exil das traditionelle normative Verständnis von Objektivität als Grundwert des westlichen Journalismus in Frage stellt (O’Loughlin & Schafraad 2016; Sarıaslan 2020). Erstens ist es für Journalist:innen im Exil schwer, volle Objektivität zu gewährleisten, wenn sie über die Handlungen eines Regimes berichten, das den Reporter:innen oder die Medien, für die er arbeitet, als „ausländischen Agenten“ bezeichnet und ihre Verwandten und Bekannten oft unter Beobachtung hält. Zweitens sind die Verschlechterung der Medienfreiheit und die Zahl der staatlichen Übergriffe in der Regel so offenkundig, dass die einzige Handlung, über staatliche Aktivitäten zu berichten, implizit einem Eintreten für die Achtung der Menschenrechte gleichkommt – und so vom Regime wahrgenommen wird.
Von der Nische zum Mainstream: Medien im Exil als neue Normalität?
Ein weitgehend unerforschtes Thema in der entstehenden Forschungsagenda zu Medien im Exil (Badran & Smets 2021; Cho 2011) sind ihre Arbeitsabläufe, angefangen bei der der Art und Weise, wie diese Medien routinemäßige Prozesse zur Überprüfung der von Quellen vor Ort gesammelten Informationen einrichten, bis hin zu ihren Taktiken, um wichtige Zielgruppen im Land zu erreichen.
Neben dem akademischen Interesse, das diese Praktiken womöglich bei Medienwissenschaftler:innen wecken, könnte ihr besseres Verständnis auch zur Verbesserung politischer Maßnahmen beitragen, die einige Institutionen wie die EU zur Konsolidierung dieser Medien, ergreifen.
Da der Raum für Informations- und Meinungsfreiheit weltweit zu schrumpfen scheint, ist es nicht unwahrscheinlich, dass eine wachsende Zahl von Nachrichtenredaktionen gezwungen sein wird, ins Ausland zu gehen, um die Machthaber weiterhin zur Verantwortung zu ziehen.
Ihre Arbeit wird sich dann wahrscheinlich als entscheidend erweisen, um autokratische Regime sowohl vor ihren Bürger:innen als auch vor der internationalen Gemeinschaft zur Rechenschaft zu ziehen und so den Raum zu schaffen, in dem demokratische Rückschritte verhindert werden können.
Hinweis
Das Zitat im Titel stammt aus der jährlichen Reuters Memorial Lecture, die Carlos F. Chamorro, Gründer und Chefredakteur von Confidencial, am 23. März 2023 in Oxford hielt.
Schlagwörter:Exil, Exilmedien, Forschung, Pressefreiheit