(R)evolution der Kommunikationsstrukturen in Afghanistan

9. Oktober 2020 • Aktuelle Beiträge, Internationales, Qualität & Ethik • von

Afghanistan hat in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung der Massenmedien erlebt. Das Ergebnis ist im regionalen Vergleich eine progressive(re) Medienöffentlichkeit. Doch könnte sie auch die Gesellschaft verändern?

Afghanistan war zwischen 1996 und 2001 ein Land ohne Medien und Bilder. Als die radikal-religiösen Taliban 1996 die Macht in Kabul ergriffen, wurden so gut wie alle Massenmedien verboten, da sie als „unislamisch“ galten. Nach dem Sturz der Taliban Ende 2001 blühte die Medienlandschaft auf. Der Kommunikationssektor wurde nach 2001 stark dereguliert, gemäß der Überzeugung, dass wettbewerbsorientierte Massenmedien den Demokratisierungsprozess beschleunigen können, nicht zuletzt forciert durch erhebliche Investitionen der USA im privaten Mediensektor. Im Jahr 2018 gab es 96 Fernsehstationen, 190 Radiosender und 231 Zeitungen – darunter 26 Tageszeitungen. Der Zugang zum Internet und dessen Nutzung wuchs rasant und stieg auf etwa neun bis zehn Millionen. Das Land hat inzwischen eine hybride Kommunikationsstruktur, d.h. eine massenmediale Struktur, die sich in privat-kommerzielle (nationale, lokale, ethnische, religiöse bzw. politische) und staatlich kontrollierte Medien aufteilt.

Multiethnische Gesellschaft

Afghanistan weist mit ca. 35 Millionen Einwohner*innen eine enorme ethnische, sprachliche und interkonfessionelle Vielfalt auf. Unter Expert*innen besteht, wie es zum Beispiel der italienische Politikwissenschaftler und Historiker Günther Pallaver formuliert, Konsens, dass die Massenmedien in solchen Gesellschaften das Netz und den Kitt der Gesellschaft herstellen könnten. Sie hätten die friedensstiftende Aufgabe, die jeweiligen Vorurteile sozialer Gruppen zu hinterfragen, zu dekonstruieren und einen kulturellen Annäherungsprozess der Sprachgruppen und damit die Reduzierung von ethnischen Spannungen zu ermöglichen.

Weiterhin spielten Massenmedien eine wichtige Rolle bei der Entwicklung einer „geteilten Identität“, mit der in der Gesellschaft der Zusammenhalt gefördert werden könnte. Die wichtigste Funktion der Massenmedien wird deswegen in diesem Kontext in der Herstellung von Öffentlichkeit gesehen, in der die Kommunikation über die „Konstitution und den Fortbestand von Gesellschaft“ stattfindet. In den letzten Jahrzehnten hat die Digitalisierung von Massenkommunikation zu einer Transformation der Öffentlichkeit geführt. Es existieren inzwischen eine Vielzahl von parallelen, fluiden (veränderlichen) Teilöffentlichkeiten, die in ihrer Gesamtheit eine große Öffentlichkeit konstituieren.

Das Team von Radio Nargis FM im Osten von Afghanistan macht Radio für Frauen. / Bildquelle: Shahla Shaiq

Fluide Öffentlichkeit(en)

Das Mediensystem Afghanistans bildet heute nicht nur die multiethnische Gesellschaft ab, sondern hat auch den Zugang zur Öffentlichkeit und die Herstellung der Teilöffentlichkeiten erleichtert, in denen nun verschiedene marginalisierte Gruppen sichtbarer sind, ihre Themen angesprochen, diskutiert und gehört werden. Vor 2001 existierten nur staatlich-kontrollierte Massenmedien und das staatliche ‚Medienmonopol‘ bestimmte, was die Menschen erfahren und was sie nicht erfahren sollten. Nach 2001 wurde der Mediensektor stark dereguliert und private Medien zugelassen. Der Medienpluralismus hat dazu beigetragen, dass bisher ungehörte Teile der Gesellschaft eine Stimme in der Öffentlichkeit erhalten. Afghanistan hat auch, wie der afghanische Journalist Ali Seerat formuliert, eine „Revolution der Online-Medien erlebt, die gesellschaftliche Kommunikationsstruktur verändern“.

Die Nutzer sozialer Medien machen etwa 20% der afghanischen Bevölkerung aus und sind eine homogene Gruppe vor allem junger, städtischer und gebildeter Menschen aus allen sozialen Schichten. So sind viele der bisher marginalisierten Menschen (ethnische Minderheiten, Jugend und Frauen) durch die Nutzung sozialer Medien aktiver in die Kommunikationsprozesse eingebunden und sind nicht mehr nur Empfänger*innen, sondern werden zunehmend selbst zu ‚Kommunikatoren‘. Beispielweise ist die Anzahl weiblicher ‚mass self-communicators‘ in den vergangenen Jahren rasant angestiegen; inzwischen haben sie eigene Teilöffentlichkeiten und schaffen Themen und eine Diskussionskultur, wobei es meistens um Gendergerechtigkeit geht. So erreichen Genderaktivistinnen wie die Künstlerin Aryana Sayeed ca. 500.000 Nutzer*innen und die Politikerin Fawzia Kofi, die 2020 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, rund 400.000 Nutzer*innen bei Twitter.

Außerdem verzeichnet das Land seit 2015 einen Aufschwung der Protestbewegungen (Tabassum Movement 2015; Enlightenment Movement 2016; Uprising for Change Movement 2017), die sich in den sozialen Medien organisieren und zum Teil hunderttausende junge Menschen mobilisieren. Schließlich haben soziale Medien der afghanischen Diaspora ermöglicht, sich weltweit untereinander und mit dem Land zu verbinden. Durch transnationale massenpersonale Kommunikation – also Kommunikation, die von der Zivilbevölkerung ausgeht aber durch eine große Reichweite Züge der Massenkommunikation annimmt – schaffen sie gemeinsame Themen, verbreiten ihre Stimmen und steuern und betreiben selbst medial hybriden (on- und offline) Aktivismus.

Globale Öffentlichkeit durch soziale Medien

Mit der Orientierung an einer globalen Diaspora fernab von nationalen Grenzen, aber auch von traditionellen Kontrollmechanismen in Afghanistan, stellen sie eine Basis für eine globale Öffentlichkeit dar. So protestierten Mitte Juni 2020 weltweit tausende afghanische Diaspora-Mitglieder, mobilisiert durch soziale Medien, indem sie Hashtags wie #AfghanLivesMatter und #IAmBurning nutzten. Auslöser hierfür war der Tod mehrerer afghanischer Geflüchteten im Mai und Juni 2020 in Iran. Die weltweiten Demonstrationen forderten Gerechtigkeit für afghanische Migrant*innen und Geflüchtete in Iran und in anderen Ländern.

Ein weiteres Phänomen sind afghanische Influencer*innen, einige von ihnen mit globaler Reichweite. So erreicht Haniyeh Mazari weltweit mehrere tausend Nutzer in der afghanischen Community. Sie ist 18 Jahre alt, lebt in München und diskutiert kontrovers und selbstbewusst mit afghanischen Jugendlichen in Australien, Amerika oder in Afghanistan über die Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft. Der Influencer ‚Qari Isa‘ aus Frankfurt debattiert in seinen Liveschaltungen auf YouTube exzessiv mit Talibankämpfern, die irgendwo in ihren Verstecken in Afghanistan sitzen und über ihre Handys zugeschaltet sind. Hunderttausende User weltweit und in Afghanistan verfolgen diese Debatten und diskutieren in den Chatrooms mit. Laut der aus Afghanistan stammenden amerikanischen Kommunikationswissenschaftlerin Wazhmah Osman haben es die Massenmedien ermöglicht, dass in der Ära nach dem 11. September die Öffentlichkeit des Landes intensiv und selbstverständlich über Frauenrechte, Demokratie, Modernität und den Islam als Teil des Aufbaus ihrer Nation debattiert.

Diese Entwicklung lässt hoffen, dass der soziale Wandel in Afghanistan durch offene Kommunikationsprozesse auf lokaler, nationaler und globaler Ebene beschleunigt und unumkehrbar wird. Zwar macht diese offene Kommunikationskultur oft die gesellschaftlichen Spannungen zwischen den Ethnien publik, doch kann dies als gutes Zeichen gesehen werden. Das Austragen und Aushandeln der Konflikte in der medialen Öffentlichkeit ist Ausdruck des Zusammenwachsens der sozialen Gruppen in Afghanistan, die zum ersten Mal diskursive Erfahrungen machen.

Die entstandene und sich weiter entwickelnde partizipative Öffentlichkeit ermöglicht eine viel offenere und zugänglichere Kommunikation über die Konstitution und den Fortbestand der Gesellschaft – und das nicht nur unter Eliten. Diese Entwicklung der Kommunikationsstrukturen ist in der Geschichte des Landes einmalig und fordert nicht nur das herkömmliche Verständnis von Afghanistan als „geschlossene und selbstbezogene Stammesgesellschaft“ heraus, sondern wird das Land auch weiterhin nachhaltig verändern.

 

Bildquelle: pixabay.com

 

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