Immer wieder sonntags

23. September 2015 • Qualität & Ethik • von

Die neuste Presse-Prognose: Die Zeitungen verschwinden nicht. Sie verschwinden nur bis Freitag.

Als ich 1991 Chefredaktor der Sonntagszeitung wurde, hatte ich ein Herrenleben. Denn mein einziger Konkurrent war der Sonntagsblick. Urs Heller, der damalige Chefredaktor des Sonntagsblicks, hatte ebenfalls ein Herrenleben. Wir teilten uns den Markt brüderlich und behaglich auf. In neunzig Minuten waren unsere beiden eher schlanken Blätter gelesen.

Heute gibt es in der Deutschschweiz sechs Sonntagsblätter. Sie sind mittlerweile bis zu 102 Seiten dick. Zusätzlich schießen sie allerlei bunte Beilagen über Gesellschaft und Lifestyle ein. Wenn man die heutigen sechs Sonntagszeitungen durchlesen will, muss man etwa sechs Stunden einsetzen. Das Problem ist nur, dass dieser Zeitaufwand für die Wochenend-Lektüre bei weitem nicht genügt. Denn es warten bereits Beigen von bedrucktem Papier, die ebenfalls abgearbeitet werden müssen. Vom Freitag und vom Samstag stapeln sich schon Magazine und Wochenend-Beilagen.

Wenn es einen großen Trend in der Presse gibt, dann ist es die Konzentration aufs Wochenende. Nur am Wochenende, so lautet die derzeitige Branchenregel, blättere der Mensch noch echte Seiten um. Unter der Woche liest er elektronisch.

Der Spiegel und sein Konkurrent Focus haben darum ihren Erscheinungstag vom Montag auf den Samstag vorverlegt. Auch die Schweizer Illustrierte erscheint nun nicht mehr montags, sondern hat auf den Freitag gewechselt.

Die Tageszeitungen haben desgleichen aufgerüstet. Der Tages-Anzeiger etwa hat soeben am Samstag einen neuen Wochenend-Bund eingeführt, den er „Wochenende“ nennt und der das bereits beigelegte Magazin ergänzt. Die NZZ bietet neu bereits am Freitag einen Wochenend-Bund, den sie „Wochenende“ nennt und der das bereits beigelegte Magazin Z ergänzt. Bespielt werden oft die üblichen Lifestyle-Themen, etwa, was ein Schnürschuh kosten darf, auf welche Inseln man reisen muss und was an Vergorenem durch die Kehle fließen soll.

Am weitesten ging die Süddeutsche Zeitung. Sie hat ihre Samstagsausgabe mit zusätzlichen Analyse- und Gesellschaftsteilen dermaßen aufgemotzt, dass sie als Tageszeitung nicht mehr von einem Wochenblatt wie der Zeit zu unterscheiden ist.

Das ist folgerichtig. Das Wochenende, so zeigen Leserumfragen, ist die einzige Phase, in der Konsumenten kein durchgängig verplantes Zeitbudget haben und der Stundentakt der Agenda durchbrochen ist. Auch die Mobilität ist am Wochenende geringer. In diese Planungslücke stoßen erbarmungslos die Verlage mit ihren Weekend-Angeboten.

Das Wochenende sei fürs Lesen geschaffen, „weil Beschleunigung die Entschleunigung zur Gegenseite hat“, erklärte Tages-Anzeiger-Chefredaktor Res Strehle zu seinem neuen Wochenend-Teil. Das Wochenende „zwingt zum Innehalten und zur Reflexion“, wusste NZZ-Chefredaktor Eric Gujer zu seinem neuen  Wochenend-Teil.

Natürlich sind diese Beteuerungen nicht frei von kommerzieller Hoffnung. Wenn am Wochenende beim Leser tatsächlich die entschleunigte Reflexion eintreten sollte, wäre er in diesem entspannten Geisteszustand auch für die Werbewirtschaft interessanter.

Man kann darum die frühere Prognose zum Zeitungssterben etwas relativieren. Die gedruckte Zeitung wird nicht untergehen, sie wird nur teilweise untergehen. In zehn oder zwanzig Jahren wird dies die Regel sein: Die Redaktionen der Verlagshäuser stellen weiterhin an sieben Tagen in der Woche eine informative Zeitung her. Von Montag bis Donnerstag ist sie digital. Gedruckt und in den Briefkasten geliefert wird das Blatt nur noch von Freitag bis Sonntag.

Erstveröffentlichung: Weltwoche vom 10. September

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