Lob der Fremdkontrolle

13. Oktober 2010 • Qualität & Ethik • von

Zu einem Tabu des Diskurses über Medienkontrolle

Im Selbstverständnis deutscher Medienräte nimmt das Wort Selbstkontrolle eine zentrale Stellung ein, während das Wort Fremdkontrolle in den einschlägigen Texten kaum vorkommt.
Dass das etwas Schlimmes sei, geht nur indirekt aus der Betonung des Selbst hervor. Weil sie unausgesprochen bleibt und deshalb kaum Widerspruch erregt, ist die Annahme, Fremdkontrolle sei etwas Verwerfliches, selbstverständlich geworden.

Warum Aversionen gegen Fremdkontrolle?

Dazu tragen auch Nebenbedeutungen des Ausdrucks fremd bei. So sehr kritische Sozialwissenschaft sich bemüht, auf die Dysfunktionalität von Fremdenfeindlichkeit in modernen, hochdifferenzierten Gesellschaften hinzuweisen, so tief ist dieser Impuls seit der vorgeschichtlichen Vergesellschaftung durch Clans oder Horden in der menschlichen Natur verankert. Von diesem archaischen Moment ist der Begriff des Fremden kaum zu lösen. Bei vielen nationalen Presseräten geht der uralte Reflex, Fremdes zurückzuweisen, so weit, dass sie bereits die Idee außerrechtlicher Medienkontrolle auf europäischer Ebene ablehnen (vgl. Pöttker/Schwarzenegger 2010).

In Deutschland wird die Aversion gegen Medienfremdkontrolle außerdem durch eine historische Besonderheit begünstigt. Selbstregulierung wird hier als einzige legitime Alternative zur staatlichen Medienlenkung durch das NS-Regime aufgefasst. Dieses Denken in extremen Dichotomien lockt den Diskurs über notwendige gesellschaftliche Ansprüche an Medien in die Falle einer zu engen Auffassung von Selbstkontrolle.

Zwei Begriffe von Selbstkontrolle

Man kann Selbstkontrolle als Eigenbefassung begreifen, bei der Subjekt und Objekt kritischen Prüfens zusammenfallen. Gerade aus der Analyse diktatorischer Erfahrungen kann aber auch ein weiterer Begriff resultieren, bei dem unter dem „Selbst“ nicht nur Verleger und Journalisten, sondern die ganze Gesellschaft verstanden wird, die sich darauf verlassen möchte, dass Journalisten ihre Öffentlichkeitsaufgabe erfüllen, die notfalls aber auch dem Staat als Verteidigerin der Kommunikationsfreiheit entgegentreten kann.

Der Deutsche Presserat beispielsweise neigt zu der engen, autoreferenziellen Auffassung. Er besteht darauf, dass „Selbstkontrolle (…) auf Vertraulichkeit basiert“ (Desgranges/Wassink 2005: 88) und „in Form der Kritik von Insidern (den Journalisten und Verlegern der Gremien)“ (ebd.: 84) auszuüben ist. Kann die Zivilgesellschaft sich mit diesem Begriff von journalistischer Selbstkontrolle begnügen?

Die Aufgabe von Kontrolle

Wozu dient journalistische Selbstkontrolle? Medienräte sehen ihre Aufgabe darin, die berufsethische Qualität der publizistischen Arbeit sicherzustellen, indem sie Mängel daran feststellen und auf deren Beseitigung hinwirken.

Darin haben Medienräte Ähnlichkeit mit anderen Institutionen. Der TÜV stellt Mängel an Kraftfahrzeugen fest, damit sie zur Sicherheit der Verkehrsteilnehmer behoben werden; und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stellt Mängel an staatlichen Regelungen fest, damit der Gesetzgeber sie verbessert und verfassungskonform gestaltet. Das wird zu Recht Kontrolle genannt, die eine notwendige Voraussetzung von Regulierung ist, aber noch nicht diese selbst. Der TÜV, das BVerfG – sie prüfen Autos oder Gesetze auf ihre Qualität und weisen auf Mängel hin; aber deren Beseitigung – das, was die Regulierung letztlich ausmacht – überlassen sie anderen: Kfz-Haltern und dahinter dem Staat, der Zulassungen entziehen kann, Parlamenten, Regierungen und hinter ihnen dem Volk, das sie abwählen kann.

(Frage: An wen können Medienräte die Beseitigung von Mängeln im Journalismus delegieren? In liberalen Demokratien mit garantierter Kommunikationsfreiheit kommt der Staat dafür ja kaum infrage. Dazu später.)

Kontrolle: systematisch und effektiv

Auch wegen ihrer Konzentration auf die kognitive Vorstufe von Regulierung erhebt Kontrolle einen Anspruch auf Systematik und Lückenlosigkeit. (Denken wir an die seriellen Qualitätskontrollen in der industriellen Produktion.) Dieser Anspruch auf Systematik gibt dem Begriff der Kontrolle ein strenges Gepräge. Ihm wohnt die Vorstellung von besonderer Effizienz der Qualitätsprüfung inne. Medienräte müssen sich deshalb Fragen nach ihrer Wirksamkeit gefallen lassen.

Kann Selbstkontrolle des Journalismus wirksam sein, wenn tatsächlich nur die zu Kontrollierenden „selbst“ die Kontrolle ausüben? Wenn die Wirte selbst die Hygiene in ihren Kneipen überwachten und die Sportler selbst kontrollierten, ob sie Dopingmittel anwenden: Wie sicher könnten wir dann sein, dass es in der Gastronomie oder im Sport sauber zugeht?

Man könnte einwenden, publizistische Selbstkontrolle sei von den Medienräten ja nicht als Selbstüberwachung des einzelnen Unternehmens gedacht, sondern als Qualitätskontrolle durch die ganze Branche. Dadurch wird die Problematik mangelnder Distanz indes nicht gelöst, nur verschoben, denn auch unternehmensübergreifende Gremien werden kaum Mängel aufdecken, die mit Missständen der gesamten Branche zusammenhängen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass notorische Verletzungen von Persönlichkeitsrechten von einer auf Branchenebene organisierten Selbstkontrolle systematisch aufgedeckt werden, wenn das Eindringen in die Intimsphäre von Prominenten im (ökonomischen) Interesse von Großverlagen liegt, die in der Branche den Ton angeben.

Balance of Powers

Die Einsicht, dass es kaum effektiv wäre, wenn Gesetze von dem sie erlassenden Parlament, Verordnungen von der sie erlassenden Regierung selbst auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft würden, hat die Schöpfer des Grundgesetzes dazu bewogen, mit dem BVerfG eine von Legislative und Exekutive unabhängige, ihnen „fremd“ gegen­übertretende Kontrollinstanz einzurichten.

Das führt zum Prinzip der Gewaltenteilung, der Verteilung von Macht auf voneinander unabhängige Institutionen („balance of powers“), das seit John Locke in der politischen Kultur von Demokratien verankert ist. Die Klassiker der Aufklärung haben dieses Prinzip formuliert, weil ihnen in pragmatischer Einschätzung der conditio humana bewusst war, dass effektive Selbstkontrolle im Grunde undenkbar ist. Locke 1689:

„Bei der Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen, dürfte es (…) eine zu große Versuchung darstellen, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch die Macht in der Hand hätten, sie zu vollstrecken, wobei sie sich (…) auf ihren eigenen persönlichen Vorteil ausrichten könnten und damit schließlich (…) gesonderte Interessen verfolgten, die dem Ziel von Gesellschaft und Regierung zuwiderlaufen.“ (Locke 2003: 111)

Und Montesquieu 1748 ganz ähnlich:

„Eine ewige Erfahrung lehrt (…), daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen. (…) Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremse.“ (Montesquieu 1994: 215)

Ausüben von Qualitätskontrolle über Medien bedeutet Aus­üben von Macht; auch hier die Dinge so anzuordnen, dass Macht durch Macht gebremst wird, heißt unabhängige, nicht der Medienbranche angehörende Repräsentanten der Gesellschaft an dieser Kontrolle zu beteiligen; heißt also mindestens teilweise Fremdkontrolle.

Im Unterschied zu Kontrolle ist Disziplin übrigens etwas, das man sich tatsächlich selbst auferlegen kann. Das setzt allerdings Einsicht in den Sinn von Grundsätzen und Werten voraus. Mit dem Begriff Selbstdisziplin (vgl. Nickel 2005) wird eine Orientierung an langfristigen Eigeninteressen angedeutet, beispielsweise an der Erhaltung der Glaubwürdigkeit von öffentlicher Information. Allerdings schließt der Begriff Selbstdisziplin Zweifel an der Wirksamkeit des mit ihm bezeichneten Bemühens nicht aus, weil es bekanntlich schwer fällt, greifbare Vorteile um weiterer Perspektiven willen zurückzustellen. „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach!“

Selbstkontrolle als gesellschaftliche Kontrolle

Wenn der enge Begriff von Selbstkontrolle eine effektive Regulierung der Medien im Interesse der Öffentlichkeit hemmt, empfiehlt es sich, Selbstkontrolle weiter als gesellschaftliche Kontrolle aufzufassen, an der auch unabhängige „Fremde“ beteiligt sind. Das schafft jenes Maß an ausbalancierter Verteilung von Macht, das dem Wort Kontrolle erst seinen Sinn gibt.

Wie nicht-staatliche Medienkontrolle durch mehr „Gewaltenteilung“ effektiver werden kann, zeigt die Grundeinsicht Lockes, dass auch bei perfekt ausbalancierter Macht zwischen unabhängigen Institutionen die letzte Kontrollinstanz das ganze Volk ist. Es müsse dem Volk stets die legitime Möglichkeit bleiben, „die Legislative abzuberufen oder zu ändern, wenn es der Meinung ist, dass sie dem in sie gesetzten Vertrauen zuwiderhandelt. Denn aller Gewalt, die im Vertrauen auf ein bestimmtes Ziel verliehen wird, sind durch jenes Ziel die Grenzen gesetzt, und immer wenn dieses Ziel offenkundig vernachlässigt (…) wird, ist dieses Vertrauen notwendigerweise verwirkt, und die Gewalt fällt zurück in die Hände derjenigen, die sie verliehen haben (…). So behält sich die Gemeinschaft beständig die höchste Gewalt vor“ (Locke 2003: 114).

Damit die Bevölkerung ihrer Verantwortung als Letzt­instanz hinter den Institutionen gerecht werden kann, muss sie Kontrollmacht ausüben (können), also systematisch prüfen (können), ob die Institutionen das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen oder ihre Aufgaben vernachlässigen. Das setzt ein Optimum an Transparenz voraus, weshalb wir von der Bevölkerung bzw. der Gesellschaft auch als „Öffentlichkeit“ sprechen. Aus diesem Grund führen Parlamente oder Gerichte ihre Verhandlungen öffentlich. Und deshalb brauchen Demokratien den Journalistenberuf, dessen Aufgabe es ist, ein Optimum an Transparenz sozialer Vorgänge und Verhältnisse herzustellen.

Lockes Theorem von der Letztinstanz Volk weist darauf hin, was an die Stelle rechtsförmiger Sanktionen treten könnte, um nicht-staatliche Medienkontrolle wirksam zu machen: Öffentlichkeit der Debatten über Missstände in den Medien.

Regulierung nach dem Modell der Sitte

Damit sind wir schließlich bei der Frage, an wen publizistische Selbst- bzw. „Fremd“-Kontrolle die Beseitigung von journalis­tischen Fehlern und Mängeln delegieren soll. Es erscheint fraglich, ob dies von Institutionen erwartet werden darf, die nach dem Modell von Staat und Recht funktionieren.

Charakteristisch für das Ordnungsgefüge Recht sind die schriftliche Fixierung der einzuhaltenden Verhaltensregeln (Gesetze), die Exklusivität der Sanktionsberechtigung (Gewaltmonopol) und die Normierung des Sanktionsmechanismus (Verfahrensrecht, Strafmaße).

Medienräte orientieren sich heute am Modell des Rechts, indem sie publizistische Verhaltenskodizes ausformulieren, indem sie eine Alleinstellung als nationale Instanz der Selbstregulierung für den jeweiligen Berufsbereich reklamieren, indem sie sich Verfahrensordnungen geben, indem sie ihre Entscheidungen als Urteile auffassen oder indem sie Reaktionen auf Regelverletzungen formalisieren und abstufen. Und auch die Öffentlichkeit betrachtet Medienräte als rechtsartig arbeitende Institutionen, indem sie ihre zu geringen Sanktionsmöglichkeiten beklagt. Das Wort von Medienräten als „zahnlosen Tigern“ ist geflügelt.

Aber worin sollten die Zähne, die Sanktionsmöglichkeiten von Medienräten bestehen? Geldstrafen, Gefängnis, Berufsverbote? Wäre es nicht besser, dieses Geschäft gleich dem Rechtsstaat zu überlassen, der mit der Justiz immerhin über ein elaboriertes, personell wie materiell gut ausgestattetes System der Regelauslegung und Sanktionsanwendung verfügt? Medienräte selbst können die Beseitigung der von ihnen festgestellten Mängel offenbar nicht leisten, denn in einem Rechtsstaat mit Gewaltmonopol können sie als außerstaatliche Einrichtungen per definitionem niemals über ein wirksames Sanktionspotential verfügen.

Um die vom Grundgesetz oder von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantierte Kommunikationsfreiheit nicht zu gefährden, muss nicht-staatliche Medienregulierung in demokratischen Rechtsstaaten offenbar auf eine Weise funktionieren, die sich von der Wirkungsweise des Ordnungsgefüges Recht grundsätzlich unterscheidet. Dafür kann das soziale Ordnungsgefüge Sitte als Orientierung dienen (vgl. Geiger 1964; Popitz 1980).

Anders als Sittennormen müssen professionelle Regeln zwar schriftlich fixiert sein, weil sie nicht durch frühkindliche Sozialisation kulturell vermittelt werden. Aber ähnlich wie bei der Sitte kann Medienregulierung durch informelle, gewaltfreie, nicht-institutionalisierte Sanktionen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erfolgen.

Nur das Medienpublikum kommt im Grunde als Instanz infrage, an die Medienräte die Beseitigung von journalistischen Mängeln delegieren können. Es hat informelle und gewaltfreie Sanktionsmöglichkeiten. Zum Beispiel steht es ihm frei, Medien, bei denen oft Mängel und Fehler festgestellt werden, nicht zu kaufen oder einzuschalten. Dass sie abbestellt oder abgeschaltet werden könnten, wird von den Medien vermutlich ernster genommen als leere Drohungen mit Hinweisen, Missbilligungen oder Rügen, hinter denen, wie jede(r) weiß, ja doch keine Vollzugsgewalt steckt und in einem Rechtsstaat mit Gewaltmonopol ja auch nicht stecken kann.

Regulierung nach Art der Sitte setzt allerdings Bekanntheit der Mängel und Fehler voraus, wofür die Verleger und Journalisten in den Medienräten sorgen müssten (und wegen ihrer Berufe zweifellos auch sorgen könnten). Womit wir wieder bei der Öffentlichkeit wären, dem A und O des Journalismus und auch der journalistischen Selbstkontrolle.

Dass der „stern“ mit seinen Millionen Leser(inne)n im Frühjahr 2010 die hochtechnisierte Schnüffelpraxis der Konkurrenz anprangerte, hat vermutlich mehr berufsethische Sensibilität in die Gesellschaft und in die Medien getragen als vieles, was der Presserat tut. Leider geschieht so etwas selten, denn wer im Glashaus sitzt, scheut sich, mit Steinen zu werfen.

Literatur:

  • Avenarius, Horst (2005): Der Deutsche Rat für Public Relations e.V. [1987]. In: Baum, Achim/Langenbucher, Wolfgang R./Pöttker, Horst/Schicha, Christian (Hrsg.): Handbuch Medienselbstkontrolle. Wiesbaden, S. 295-303.
  • Baum, Achim/Langenbucher, Wolfgang R./Pöttker, Horst/Schicha, Christian (Hrsg.) (2005): Handbuch Medienselbstkontrolle. Wiesbaden.
  • Desgranges, Ilka/Wassink, Ella (2005): Der Deutsche Presserat [1956]. In: Baum, Achim/Langenbucher, Wolfgang R./Pöttker, Horst/Schicha, Christian (Hrsg.): Handbuch Medienselbstkontrolle. Wiesbaden, S. 79-89.
  • Geiger, Theodor (1964): Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Neuwied, Berlin.
  • Locke, John (2003): Über die Regierung (The second treatise of government), übers. v. D. Tidow, m. e. Nachw. hrsg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch. Stuttgart.
  • Montesquieu, Charles-Louis de (1994): Vom Geist der Gesetze, übers. v. Kurt Weigand. Stuttgart.
  • Nickel, Volker (2005): Der Deutsche Werberat [1972]. In: Baum, Achim/Langenbucher, Wolfgang R./Pöttker, Horst/Schicha, Christian (Hrsg.): Handbuch Medienselbstkontrolle. Wiesbaden, S. 229-239.
  • Popitz, Heinrich (1980): Die normative Konstruktion von Gesellschaft. Tübingen.
  • Pöttker, Horst/Schwarzenegger, Christian (Hrsg.) (2010): Europäische Öffentlichkeit und journalistische Verantwortung. Journalistische Selbstregulierung, europäisch gedacht. Köln. (im Druck)

Erstveröffentlichung: Journalistik Journal 2/2010

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