Lokaljournalismus unter digitalen Vorzeichen

30. November 2021 • Digitales, Qualität & Ethik • von

Der Lokaljournalismus hat eine digitale Transformation hingelegt, die schnelles Umdenken erfordert hat. Redaktionsstrukturen wurden während der Pandemie neu aufgebaut. Ein Gespräch mit zwei Medienschaffenden, die anpacken, um die Herausforderungen zu überwinden.

Der Lokaljournalismus hat während der Pandemie bewiesen, wie elementar wichtig regionale journalistische Inhalte für die Bevölkerung sind. Die teilweise neuen Umstände haben schnelles Umdenken erfordert und Veränderungen in den Redaktionen angestoßen. Dr. Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), und Anna Paarmann, die gemeinsam mit einer Kollegin die Online-Redaktion der Landeszeitung für die Lüneburger Heide leitet, diskutierten gemeinsam mit Studierenden am Institut für Journalistik darüber, inwiefern die Umstellung auf „Online-First“ die Arbeitsweisen der Redaktionen beeinflusst und mit welchen Strategien ihre Lokalredaktionen die digitalen Plattformen mit Inhalten bespielen.

Die Lokalredaktionen übernehmen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft, denn Lokaljournalismus kann, wie die Journalismusforscherin Wiebke Möhring 2013 in ihrem Beitrag „Profession mit Zukunft? Zum Entwicklungsgegenstand des Lokaljournalismus“ festhielt, „seine Umwelt aufmerksam und kritisch begleiten“. Die Corona-Pandemie hat aus normativer Perspektive gezeigt, wie fundamental wichtig regionale Berichterstattung ist und dass Lokalredaktionen ihre normativ-demokratischen und gesellschaftlich-sozialen Funktionen erfüllen können. So konnte die Landeszeitung für die Lüneburger Heide mit Hilfe des Corona-Tickers lokale und überregionale Ereignisse abbilden. Bis heute wird der Ticker regelmäßig aktualisiert – das Interesse daran, wie sich die Lage im eigenen Stadtgebiet entwickelt, sei noch nicht abgeflacht, so Anna Paarmann.

Anna Paarmann von der Landeszeitung für die Lüneburger Heide

Finanzierungsmodelle im Umbruch

Zeitgleich bricht bei den Verlagen ein finanzielles Standbein ein. Durch die Digitalisierung sind traditionelle Finanzierungsmodelle über Anzeigen- oder Annoncen-Aufträge weggefallen. Alexander Marinos weist darauf hin, dass inserierende Unternehmen, die von der Pandemie härter getroffen wurden, genauer auf ihre Ausgaben schauen müssen und Werbeetats häufig als erste kürzen würden.

„Ich kann für uns sagen, dass sich die Paywall noch nicht rechnet“, sagt Anna Paarmann. Während man sich früher darauf konzentriert habe, Print-Abonnenten zu gewinnen, sei es heute nötig, sich „mehrere Standbeine“ zu suchen, sagt Paarmann. Die Funke Mediengruppe sei noch auf anderen Märkten aktiv, berichtet Marinos. So würden beispielsweise mit Zeitschriften, Zweitverwertungen in Büchern oder Leserläden, in denen Wein verkauft wird, ebenfalls Einnahmen generiert. „Aber der Verkauf von Wein und Büchern generiert, wenn wir ehrlich sind, Kleinstbeiträge. Das kompensiert die Ausfälle leider kaum.“ Dass die stark sinkenden Einnahmen aus Print-Abonnements und Anzeigen durch Online-Abos alleine nicht aufgefangen werden, sei eine riesige Herausforderung, meint Paarmann.

Deutschland ist zwar ein Zeitungsland – mit rund 350 Tageszeitungen und dem größten Zeitungsmarkt in Europa, aber wie lange das so bleibt, ist fraglich. „Die Auflage fast aller Blätter geht seit Jahren zurück. (…) Das hat massive Folgen für die Wirtschaftlichkeit der Zeitungsverlage“, heißt es in einer Studie der Beratungsfirma Schickler, die Zeitungsverlage berät. Das Digitalgeschäft kann die Print-Verluste derzeit noch nicht ausgleichen. „Angesichts dieser Bedingungen lässt es sich nicht leugnen: Die Ressourcen für glaubwürdigen, um Unabhängigkeit bemühten, sorgfältig recherchierten und gut verständlichen Lokaljournalismus werden zusehends knapper“, stellte der Journalismusforscher Horst Pöttker bereits 2013 in einem Beitrag fest. Das wirft zumindest ökonomisch die Frage auf, ob sich der Lokaljournalismus in einer Krisensituation befindet.

„Das Wort ‚Krise‘ würde ich nicht unterschreiben“, sagt Paarmann: „Es ist wirtschaftlich zwar schwierig und Corona hat aufgezeigt, wo die Probleme liegen. Aber aus dieser herausfordernden Situation konnte unsere Redaktion viel lernen.“ Sie ist begeistert davon, wie ihre Kolleginnen und Kollegen die Herausforderungen gemeistert haben. Das Team konnte herausarbeiten, an welchen Stellschrauben noch gedreht werden musste. Corona habe diesen Prozess angeschoben und dabei geholfen, das Tempo wieder stärker anzuziehen.

Alexander Marinos von der WAZ

Gleiches gelte für die Funke Mediengruppe, so Marinos. Die Pandemie habe die Arbeitsweisen der Redaktion tiefergehend digitalisiert und positiv auf die „Online-First“-Strategie eingewirkt. Bei der WAZ, die zur Funke Mediengruppe gehört, sei man mit der Transformation zu überwiegend digitaler Berichterstattung schon recht weit. Eine „radikale Umstrukturierung“ habe die WAZ hinter sich gebracht, sagt Marinos. Das bedeute, dass „alle Redaktionen in erster Linie Online-Redaktionen“ seien. Ein nachgelagertes Team bereite diese Inhalte dann für Print auf. Nur noch etwa zehn Prozent des Personals sei für den Printbereich zuständig.

Bei der Landeszeitung für die Lüneburger Heide hat sich die Umstellung zum Onlinejournalismus etwas länger hingezogen. Erst Anfang 2021 führte die Zeitung eine Paywall ein. Vorher waren alle Online-Artikel kostenlos zugänglich. „Wenn ich da heute drüber nachdenke, kriege ich Kopfschmerzen“, sagt Paarmann. Nachdem der Fokus zuvor eindeutig auf der Printberichterstattung gelegen habe, habe man in sehr kurzer Zeit auf Online umstellen müssen. Und das bevor Workflows definiert und Schulungen durchgeführt werden konnten.

Diese strikte Arbeitsteilung von Online und Print und die eindeutige Priorisierung von Online habe gute und schlechte Seiten, so Marinos. „Ganz optimal ist es natürlich nicht, weil das Zielpublikum unterschiedlich ist und die Schere dazwischen weiter auseinandergeht, weil das Printpublikum älter und älter wird“, sagt Marinos. Andererseits könne auch die gedruckte Zeitung von Änderungen profitieren, die die Mediendigitalisierung mit sich bringt.

Das liege vor allem an den unmittelbaren Rückmeldungen, die man online bekomme, so Marinos. Als Beispiel nennt er „das klassische Porträt vom stellvertretenden Feuerwehrchef in Herne“. Derartige Geschichten habe man früher in der Redaktion „nette Lesegeschichten“ genannt.  „Heute wissen wir, dass das online 0,0 funktioniert, und wenn wir auf unsere E-Paper-Zahlen gucken, dann sehen wir, dass es dort auch nicht wahrgenommen wird.“ Kurzum: „Das heißt, das war schon immer dysfunktional, und durch die Rückmeldungen, die wir dankenswerterweise online bekommen, können wir diese Dinge aus allen Medien entfernen.“

Corona crasht die Arbeitsstrukturen und den Webserver

Bei der Verschiebung vom Print- zum Onlinejournalismus hat auch Corona eine Rolle gespielt. „Corona hat uns einen enormen Schub gegeben. Das kann man kaum sagen, aber es kam für uns zur rechten Zeit“, sagt Paarmann. Die Nutzerzahlen auf der Website der Landeszeitung für die Lüneburger Heide seien in dieser Zeit explodiert. Einmal sei wegen der hohen Zahlen sogar der Server zusammengebrochen. Die große Nachfrage an Informationen hat besonders zu Beginn den Lokaljournalisten viel abgefordert. Anfangs sei die Umstellung auf das Homeoffice gerade für Kollegen auf dem Land mit schlechter Internetverbindung problematisch gewesen. Mittlerweile habe sich das aber völlig geändert. Redaktionskonferenzen, die online oder hybrid ablaufen, seien mittlerweile im Berufsalltag normal, sagt Paarmann. Durch den Ausfall von Terminen sei die Redaktion gezwungen gewesen, viel stärker in die Themenfindung zu gehen und kreativer zu arbeiten. „Dadurch hat die redaktionelle Qualität einen Schub bekommen“, sagt Paarmann.

Das findet auch Marinos und ergänzt, dass das Arbeiten von zu Hause ohnehin den Vorteil mit sich bringe, dass es dadurch mehr Flexibilität, unter anderem bei der Betreuung der Kinder, gebe. Außerdem habe sich bei der WAZ durch die Pandemie das virtuelle Arbeiten etabliert, was die Arbeit erleichtere. Seit der Pandemie sei es auch üblicher, dass Redakteure von unterwegs arbeiten, statt in der „Redaktionsstube“. Das passe sehr gut in die Zeit und mache die Arbeitsweise seiner Redaktion flexibler und sorge vor allem dafür, dass Artikel schneller veröffentlicht werden können.

Gesellschaftliche Spaltung zeigt sich auch im Nutzerverhalten

Mit Besorgnis schaut Alexander Marinos allerdings auf die Leser- bzw. Nichtleserschaft. „Wir erleben eine komplett gespaltene Gesellschaft. Der Riss wird immer tiefer“, sagt Marinos: „Es gibt zum Beispiel Geimpfte und Ungeimpfte oder auch Informierte und weniger Informierte.“ Bei beiden Gruppen gebe es Überschneidungen. Er schlussfolgert, dass die gesellschaftliche Krise auch damit zusammenhänge, dass journalistische Inhalte nur noch von einer „bestimmten Schicht“ wahrgenommen werden würden.

Tatsächlich erfordert es ein hohes Maß an Nachrichtenkompetenz, um journalistische Inhalte zu erkennen und die Qualität der Beiträge zu beurteilen. „Den Befragten fällt es zum Teil schwer, zwischen verschiedenen Kommunikationsabsichten, das heißt zwischen Werbung, Information, Desinformation und Meinung zu unterscheiden.“ Die Stiftung Neue Verantwortung hat in einer Studie die Nachrichtenkompetenz der Deutschen untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass Bildung, Alter und demokratische Grundhaltung eine entscheidende Rolle für die Digitalkompetenz spielen. Die Herausgeber sprechen von einem „Kompetenzgap“.

Ohne valide Informationen sinken die Chancen auf einen qualitativen gesellschaftlichen Diskurs und politische Beteiligung. „Lokaljournalistische Inhalte werden nur noch von einer bestimmten Schicht wahrgenommen – das sind Menschen mit einem gewissen Bildungsgrad. Andere größer werdende Teile der Gesellschaft meinen, dass sie für Journalismus kein Geld mehr ausgeben müssen“, sagt Alexander Marinos.

„Verlage haben lange versucht, diese Menschen zu erreichen“, bekräftigt Anna Paarmann. Doch nur wenige von ihnen seien bereit, ein Abonnement abzuschließen. Sie orientierten sich höchstens an journalistischen Posts in den sozialen Netzwerken: „Ich will mir die Prozentzahl derjenigen gar nicht vorstellen, die immer schön die Überschriften und den Teaser durchlesen, sich dann gut informiert fühlen und auf diesem einen Satz ihre Meinung bilden.“

Die Redakteure müssen sich aber auch regelmäßig mit dieser Zielgruppe auseinandersetzen. Auf den Facebook-Seiten der Lokalredaktionen tummeln sich die Leserkommentare. „Wir haben in der Corona-Zeit so viele Ressourcen in Moderation gesteckt“, sagt Anna Paarmann: „Damit verdienen wir zwar nichts, aber soziale Netzwerke sind unsere Hauptzulieferer für die Homepage.“ Und so arbeite das Team der Landeszeitung für die Lüneburger Heide von 7 bis oftmals 23 Uhr daran, die Kommentare zu moderieren. Trotzdem: „Dem ist nicht Herr zu werden. Das ist an manchen Tagen wirklich unfassbar und für eine Lokalzeitung unserer Größe kaum möglich, alle durchzugehen.“

Auch bei den Lokalredaktionen der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung ist das Problem bekannt. „Es geht einigen nur darum, draufzuhauen und zu beleidigen“, ergänzt Alexander Marinos. „Was wir da teilweise aushalten müssen, geht auf keine Kuhhaut.“ Der Umgang mit den Usern ist ambivalent: Auf der einen Seite lebt das Internet von Partizipation, die Distanz zur Leserschaft ist rapide gesunken. Auf der anderen Seite stehen die Verlage durch den direkten Austausch vor neuen Herausforderungen und vernetzen sich mit anderen Redaktionen, um Ideen auszutauschen. Anna Paarmann berichtet, dass sie regelmäßig mit einem abteilungsübergreifenden Transformationsteam den Kontakt zu anderen Redaktionen suche, um Best-Practice-Beispiele kennenzulernen: „Wenn man Synergie-Effekte erzeugt und klug nutzen kann, ist das ein unglaublicher Schatz.“

Datenanalyse als Wegweiser

Mit Hilfe der Digitalisierung ist es seit einiger Zeit auch möglich, detaillierte Auswertungen über das Nutzungsverhalten der Besucher der Zeitungswebseiten zu erhalten. „Fakt ist, dass wir über Jahrzehnte im Blindflug unterwegs waren“, sagt Alexander Marinos. Jetzt sehen die Redakteure live, wie stark Artikel geklickt werden. Anna Paarmann weiß, welche Themen bei den Lesern besonders gut ankommen: „Auf jeden Fall Betroffenheit, z. B. Polizeimeldungen zu Sperrungen oder neuen Einschränkungen, Kriminalität und Wohnungsdebatten.“ Sogenannte „Themenfeldanalysen“ helfen dabei, Beiträge, die besonders gut funktionieren, nach Themen zu clustern. Mit ihrer Hilfe können die Redakteure überprüfen, welche Inhalte besonders stark nachgefragt werden. „Man muss dann eine Mischung aus Datenzentrierung und Bauchgefühl bringen“, sagt Paarmann.

„Die Datenanalyse stellt die Fakten hin, gibt aber per se keine Antworten“, sagt Alexander Marinos.  Eine Auseinandersetzung mit ihnen gehöre mittlerweile zum Alltag. Bei Morgenkonferenzen werde beispielsweise mit Hilfe der Dashboards darauf geschaut, welche Artikel besonders hohe Reichweiten erreicht haben und wie viele neue Abos abgeschlossen worden sind. Die Zahlen sollen auch helfen, um den Wettbewerb zu stärken: „Zwischen den großen Redaktionen in Essen, Duisburg und Bochum gibt es einen Wettbewerb, wer die meisten Abos gemacht hat.“

Einig sind sich Anna Paarmann und Alexander Marinos in einem: Nutzerzentrierte Daten sind hilfreich und ein wichtiges Werkzeug, aber am Ende bleiben es die Lokaljournalisten, die eigene Entscheidungen treffen und sich nicht vom Algorithmus vorschreiben lassen, welche Themen wann, wie und wo ausgespielt werden.

Was die Zukunft des Lokaljournalismus und dessen Finanzierung angeht, ist Marinos zwiegespalten. „Weniger Personal, weniger Tiefe in der journalistischen Berichterstattung und niedrigere Renditen“, erwartet er. Trotzdem ist er auch vorsichtig optimistisch: „Unser Ziel ist es, in NRW eine dreistellige Zahl an Online-Abos jeden Tag dazuzugewinnen.“ Von diesem Ziel sei man auch nicht weit entfernt. Damit könne man die Auflagenverluste bei der gedruckten Zeitung zumindest teilweise ausgleichen. „Davon habe ich vor zwei Jahren nicht zu träumen gewagt“, sagt Marinos.

 

Literatur

MDR (2020). Studie über die Wirtschaftlichkeit von Zeitungen. Wenn sich das Abo nicht mehr rechnet. https://www.mdr.de/medien360g/medienkultur/wenn-sich-das-abo-nicht-mehr-rechnet-100.html

Möhring, W. (2013). Profession mit Zukunft? Zum Entwicklungsgegenstand des Lokaljournalismus. In: Pöttker, H. & Vehmeier, A. [Hrsg.]. Das verkannte Ressort. Probleme und Perspektiven des Lokaljournalismus. (S. 63-75). Wiesbaden: Springer VS.

Pöttker, H. (2013) Das verkannte Ressort. Strukturen und Probleme des Lokaljournalismus in der digitalen Medienwelt. In: Pöttker, H. & Vehmeier, A. [Hrsg.]. Das verkannte Ressort. Probleme und Perspektiven des Lokaljournalismus. Wiesbaden: Springer VS.

Stiftung neue Verantwortung (2020). „Quelle: Internet“? Digitale Nachrichten- und Informationskompetenzen der deutschen Bevölkerung im Test. https://www.stiftung-nv.de/de/publikation/quelle-internet-digitale-nachrichten-und-informationskompetenzen-der-deutschen

 

Bildquelle: ROBIN WORRALL /Unsplash 

 

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Seminars „Lokaljournalismus heute“ am Institut für Journalistik der TU Dortmund unter Leitung von Prof. Dr. Wiebke Möhring und Anna-Lena Wagner. Dieses findet im Wintersemester 2021/22 in Kooperation mit dem Regionalbüro Westfalen der Konrad-Adenauer-Stiftung statt.

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