In seinem aktuellen Buch “Democracy Without Journalism: confronting the misinformation society” argumentiert der Medienwissenschaftler Victor Pickard, dass die Schaffung eines staatlich geförderten öffentlichen Rundfunks nach europäischen Modellen ein Ansatz sein könnte, um der Medienkrise in den USA entgegenzuwirken. Für das EJO sprach er mit Anya Schiffrin darüber, wie dies funktionieren könnte.
Journalisten befinden sich heute in einer schrecklichen Lage. Sie sind unverzichtbare Arbeitskräfte, aber Zehntausenden wurde weltweit Zwangsurlaub verordnet. Während die Zahl der Nutzer von Medienangeboten im Jahr 2020 stark gestiegen ist, hat sich bei vielen Medienunternehmen die wirtschaftliche Krise verschärft, was insbesondere dem Einbruch des Werbegeschäfts geschuldet ist. Seit 2008 gingen die Einnahmen durch Anzeigen ohnehin zurück, aber Covid-19 könnte ein großes Mediensterben einleiten, wie eine eine kürzlich von BBC Media Action in Zusammenarbeit mit Luminate erstellte Studie warnt.
Die Krise trifft den Journalismus sehr hart und bringt Medien auf der ganzen Welt zum Erliegen. Der botswanische Journalist Ntibinyane Ntibinyane warnte im April davor, dass alle afrikanischen Zeitungen durch Covid-19 von der Schließung bedroht seien. Anfang Mai wurden in mehreren großen südafrikanischen Medienunternehmen Mitarbeiter entlassen und das Werbegeschäft brach in so unterschiedlichen Ländern wie Bolivien, Großbritannien, den Philippinen, Brasilien, Indien und Liberia ein, um nur einige zu nennen. In dieser Zeit sind neue Denkansätze und groß angelegte Lösungen zur Rettung des unabhängigen Journalismus, der Medienvielfalt und des Medienpluralismus dringend erforderlich, auch wenn vielleicht der politische Wille fehlt, diese umzusetzen.
Aus diesen Gründen ist das jüngste Buch des Medienwissenschaftlers und Historikers Victor Pickard “Democracy Without Journalism: confronting the misinformation society” äußerst bedeutsam. Pickard schlägt darin für die USA ein Mediensystem vor, das sich an europäischen Modellen orientiert: Ein staatlich unterstützter, aber unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Steuern für Internetgiganten, die zur Unterstützung von Nachrichtenmedien verwendet würden, und Subventionen für die Medien.
Er betont, wie wichtig es sei, dass kleine Communitys eigene Kanäle und lokale Nachrichten-Kooperationen schaffen und dass Journalisten mit ihrem Publikum in unterversorgten Gebieten in Kontakt treten. Es besteht die Hoffnung, dass durch die Verringerung des kommerziellen Drucks auf die Medien die Qualität verbessert wird, was letztlich dazu beitragen könnte, dass die Bürger nicht nur besser informiert, sondern vielleicht auch weniger politisch polarisiert sind als zurzeit. Pickard ist im Vorstand der Medienaktivismusgruppe Free Press und beteiligt sich regelmäßig an politischen Debatten in den USA und anderen Ländern.
Anya Schiffrin: In Ihrem Buch betonen Sie, als wie wichtig Sie öffentliche Medien erachten und ich frage mich, ob die Covid-19-Pandemie Ihnen diesbezüglich Hoffnung gegeben hat. Sie hat gezeigt, wie wichtig qualitativ hochwertige Informationen für die Gesellschaft sind – glauben Sie, dass die Krise die Schaffung öffentlicher Medien in den USA wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher gemacht hat?
Victor Pickard: Kurzfristig hat die Pandemie das Bewusstsein für die lebenswichtige Bedeutung des Journalismus für die Gesellschaft geschärft, besonders in Momenten, wie wir sie jetzt erleben. Umfragedaten aus der Zeit vor der Pandemie legten nahe, dass die meisten Amerikaner nicht wussten, dass der Lokaljournalismus zu kämpfen hat, aber jetzt wächst das Bewusstsein dafür, dass sich der Journalismus in einer Krise befindet. Neue Umfragen zeigen, dass die Amerikaner sogar damit einverstanden wären, wenn die Regierung den Journalismus subventionieren würde.
Ich glaube nicht, dass diese jüngsten Entwicklungen sofort in der Schaffung von öffentlichen Medien resultieren werden, aber sie haben bereits zu einem leicht erhöhten Budget für den öffentlichen Rundfunk geführt. Ich halte es für wahrscheinlich, dass wir uns weiter in Richtung Notfinanzierung für den Journalismus bewegen werden. Aber wir müssen uns um die Zukunft des Journalismus nach der Pandemie kümmern – denn für die meisten Formen des Lokaljournalismus ist die Lage so kritisch, dass es, damit sie überhaupt eine Zukunft haben, struktureller Reformen und permanenter öffentlicher Investitionen bedarf.
Die anhaltende Krise des Journalismus […] könnte dazu beitragen, die Voraussetzungen für ein stärkeres öffentliches US-Mediensystem zu schaffen.
Langfristig könnten die anhaltende Krise des Journalismus – und die Veränderungen in der Art und Weise, wie wir über Journalismus denken – dazu beitragen, die Voraussetzungen für ein stärkeres öffentliches US-Mediensystem schaffen. Möglich wären dann auch auf lokaler Ebene neue Experimente, z.B. kommunale Zeitungen, oder Subventionen auf staatlicher Ebene, wie wir sie bereits in New Jersey gesehen haben.
Dafür braucht es aber im gesamten Land öffentliche Medien verschiedener Arten, was unweigerlich mehrere Fragen aufwirft. Erstens, wie werden wir dafür bezahlen? Es gibt viele Möglichkeiten, auf die ich in auch in meinem neuen Buch ausführlich eingehe: von der Besteuerung von Medien- und Plattform-Monopolen über die Weiternutzung bereits bestehender Mediensubventionen bis hin zum Einsatz einzelner Steuergutscheine. Ich schätze grob, dass dafür ein öffentlicher Medienfonds von jährlich ungefähr 30 Milliarden Dollar notwendig wäre. Das ist im Vergleich zu den jüngsten Ausgaben wie dem Konjunkturpaket oder der früheren Steuersenkung von Trump ziemlich bescheiden.
Eine zweite Frage ist, wie wir sicherstellen, dass die öffentlichen Medien unabhängig bleiben. Viele demokratische Länder auf der ganzen Welt haben dafür Lösungen gefunden; ich denke, wir schaffen das auch. Natürlich brauchen wir strukturelle Schutzmaßnahmen und Firewalls zwischen Regierungen und Medien. Wir müssen das System demokratisieren, indem wir die Macht von der föderalen Ebene auf die Regierungen der Bundesstaaten und weiter auf die lokalen Gemeinschaften übertragen. Und wir sollten uns auf unabhängige Beratungsgremien stützen, die dabei helfen, die Mittel den Gebieten mit dem größten Bedarf, wie Nachrichtenwüsten und unterversorgte Gemeinden, zuzuweisen.
Und schließlich, wie stellen wir sicher, dass die Menschen diese Medieninstitutionen annehmen, wenn wir sie einmal aufgebaut haben? Das ist eine gewaltige Herausforderung, aber es gibt erste Anzeichen dafür, dass lokale Gemeinschaften, wenn sie auf allen Ebenen an der Gestaltung, Verwaltung und Produktion ihrer eigenen Medien beteiligt sind, ihren lokalen Medien vertrauen und sich auf sie verlassen werden.
AS: Wäre es möglich, NPR [National Public Radio] oder PBS [Public Broadcasting Service] einfach auszubauen, anstatt eine völlig neue Struktur zu schaffen?
VP: Der Ausbau und die Neuausrichtung von NPR und PBS wäre sicherlich eine gangbare Option. Wir müssten klarstellen, dass diese Netzwerke nicht mehr in erster Linie Rundfunkanstalten wären, sondern zu Multimedia-Zentren würden. Das trifft schon jetzt bis zu einem gewissen Grad zu, aber es bedarf noch eines psychologischen Wandels unter den Amerikanern – insbesondere unter den politischen Entscheidungsträgern -, um die künstlichen Unterscheidungen zwischen öffentlichem Rundfunk und anderen Arten von Journalismus zu beseitigen.
Was dieser Übergang für die etablierten Zeitungen bedeuten würde, ist offen. Zeitungen könnten in ein landesweites Netz öffentlicher Medien eingebunden werden, oder sie könnten als gemeinnützige oder wenig gewinnorientierte Einrichtungen, die mit lokalen öffentlichen Medien zusammenarbeiten oder sich gegenseitig ergänzen, außerhalb dieses Netzes bleiben. So sehr ich Zeitungen auch liebe, ging es mir nie darum, sie um jeden Preis zu retten. Es geht mehr darum, den Journalismus zu erhalten, und Zeitungen sind nun einmal in den meisten Gebieten des Landes die letzte Bastion der Berichterstattung.
Wir werden kreativ sein müssen, wenn wir gemeinnützige Optionen entwickeln wollen.
Es hat klare Vorteile, auf dem öffentlichen Rundfunk-Netzwerk aufzubauen, anstatt etwas von Grund auf Neues zu schaffen. Wir könnten auch andere, bereits bestehende öffentliche Infrastrukturen wie Bibliotheken, Universitäten und sogar Postämter nutzen, um Räume für die lokale Nachrichtenproduktion bereitzustellen. Letztlich werden wir bei der Entwicklung von gemeinnützigen Optionen kreativ sein müssen, denn kommerzielle Optionen allein können nicht den lokalen Journalismus bieten, den wir brauchen.
AS: Was können wir aus den Erfahrungen anderer Länder lernen, wenn es darum geht, etwas Neues auf die Beine zu stellen?
VP: Im Moment werden in keinem Land große neue Institutionen geschaffen, aber viele kleinere Experimente entstehen. Ganz allgemein neigen andere demokratische Länder weniger dazu, dem Marktfundamentalismus unterworfen zu sein und können daher eher systemisches Marktversagen erkennen und darauf reagieren. Dies ist eine Möglichkeit, wie wir von internationalen Best Practices lernen können.
Andere Länder gehen schneller zu Subventionsmodellen über, insbesondere im Lokaljournalismus. Sie haben auch damit begonnen, sich mit den Auswirkungen des Werbe-Duopols von Google und Facebook auf die Medien auseinanderzusetzen.
Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen uns, dass es sich um eine globale Krise des Journalismus handelt. Natürlich traf die Krise die USA aus strukturellen Gründen früher und härter, vor allem wegen unserer übermäßigen Abhängigkeit von Werbeeinnahmen im Vergleich zur Zeitungsindustrie anderer Länder. Aber kommerzielle Mediensysteme auf der ganzen Welt haben mit vielen der gleichen strukturellen Probleme zu kämpfen. Das zeigt uns, dass systemische, strukturelle Reformen notwendig sind.
AS: Wie würden Sie mit Facebook, WhatsApp und Twitter umgehen? Ich habe freiwillige Richtlinien vorgeschlagen, mit denen sich die Technologieunternehmen verpflichten können, in ihren Newsfeeds qualitativ hochwertige, vielfältige Informationen bereitzustellen. Gibt es andere Dinge, die sie tun sollten? Was halten Sie von den Urheberrechtsentscheidungen in Australien und Frankreich? Sie scheinen ein Lichtblick zu sein. Sollten andere Länder diesem Beispiel folgen?
VP: Ich denke, dass diese jüngsten Entscheidungen im Allgemeinen gute Anzeichen dafür sind, dass demokratische Gesellschaften beginnen, die Plattform-Monopole einzudämmen. Ich halte es jedoch für wichtig, dass wir die Werbeeinnahmen nicht einfach wieder an dieselben etablierten kommerziellen Verlage zurückgeben, die die Krise des Journalismus verschlimmert haben, indem sie in ihren Redaktionen eine Reihe von Sparmaßnahmen durchgesetzt und den Profit über das Prinzip eines nachhaltigen Qualitätsjournalismus gestellt haben.
Es geht um uns, die breite Öffentlichkeit. Es geht um unseren ständigen Kampf für eine demokratische Gesellschaft.
Anstatt gescheiterte kommerzielle Modelle zu unterstützen oder den Profitzwang bedrohter Sektoren zu schützen, setze ich mich dafür ein, diese Gelder mithilfe eines öffentlichen Medienfonds umzuverteilen, der sich auf Nachrichtenwüsten und andere drängende gesellschaftliche Probleme konzentrieren sollte. Andernfalls riskieren wir, Gewinne zu privatisieren und Kosten zu sozialisieren. Sprich, es sollte hier nicht um die armen Rupert Murdochs dieser Welt gehen, sondern um uns, die breite Öffentlichkeit. Es geht um unseren ständigen Kampf für eine demokratische Gesellschaft.
Victor Pickard: Democracy Without Journalism: confronting the misinformation society (Oxford University Press, 2020)
Dieser Beitrag wurde zuerst am 4. Juni 2020 auf der englischen EJO-Seite veröffentlicht.
Aus dem Englischen übersetzt von Johanna Mack.
Schlagwörter:Corona-Krise, Demokratie, öffentlich-rechtlicher Rundfunk, öffentliche Medien, Subentionen, USA