Welche überregionalen Ereignisse interessieren Zeitungsleser besonders? Das Leser-Panel des Leipziger IPJ ergab, dass Erwachsene in West und Ost, Süd und Nord dieselben Informationsinteressen haben.
Fritz Meier ist Feinkosthändler in Augsburg, Jutta Schmidt Sachbearbeiterin im Finanzamt in Halle, Heinz und Lisa Rauberger sind beide Grundschullehrer im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen (Namen von der Red. geändert).
Die Genannten haben vieles miteinander gemein. Sie gehören zur Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen, verfügen als Schulabschluss mindestens über die Mittlere Reife, sind berufstätig, haben Kinder im Haushalt und sind regelmäßige Leser ihrer Tageszeitung am Ort. Sie gehören zu den rund 1.200 Zeitungslesern, die seit Herbst 2009 an einem deutschlandweit eingerichteten Leser-Panel des Instituts für Praktische Journalismusforschung (IPJ) in Leipzig teilnehmen. Im Laufe monatlicher Befragungswellen wollten die Leipziger Medienforscher herausfinden, ob sich das Informationsinteresse der Zeitungsleser an überregionalen Ereignissen von Region zu Region unterscheidet, ob – mit anderen Worten – die unterschiedlichen politischen Traditionen, sozialen Erfahrungen und Mentalitäten auf das Informationsinteresse durchschlagen oder nicht.
Dies ist nicht nur ein Thema für Wissenschaftler, sondern auch für die Zeitungsmacher und die Art und Weise, wie sie Nachrichten auswählen und präsentieren. Die Frage lautet: Gibt es für jedes Verbreitungsgebiet mentalitätsgeprägte Interessen, die auf die Nachrichtenwerte abfärben – oder besitzt die (zeitunglesende) Erwachsenenbevölkerung grosso modo dasselbe Relevanzgefühl, egal, wo sie lebt?
Sollten also für die Nachrichtenauswahl ungefähr dieselben Relevanzkriterien gelten, egal, ob Fritz Meier die Augsburger Allgemeine liest oder Jutta Schmidt die Mitteldeutsche Zeitung oder das Ehepaar Rauberger die Frankfurter Neue Presse? Die Medienwissenschaften behaupten schon seit einem halben Jahrhundert, dass Nachrichtenredakteure in der gesamten westlichen Welt tagtäglich das Informationsangebot nach weitgehend übereinstimmenden Faktoren bewerten, auswählen und aufbereiten.
Dass demnach das Kernangebot an überregionalen Nachrichten in den meisten Regionalzeitungen praktisch identisch ist (von der unterschiedlichen Aufmachung und Platzierung einmal abgesehen), muss also nicht damit erklärt werden, dass alle Regionalzeitungen am Tropf der Nachrichtenagenturen hängen und keine Vielfalt (mehr) existiere. Es könnte vielmehr darauf zurückzuführen sein, dass professionell arbeitende Nachrichtenredaktionen etwa dieselben Nachrichtenwerte im Kopf haben, also unabhängig voneinander zu etwa derselben Themenauswahl kommen, die zudem deshalb stimmig ist, weil die etwas besser ausgebildeten Zeitungsleser ihrerseits das Wichtige vom Unwichtigen nach denselben Wertigkeiten unterscheiden. Ist das so?
Monatliche Befragungen
Seit November 2009 befragt das IPJ die Zeitungsleser verschiedener Regionalzeitungen in Deutschland einmal im Monat (alle am selben Tag) darüber, ob und wie sie sich über ausgewählte Ereignisthemen der Vortage informiert haben und welche Rolle die Online-Medien spielen.
Im Rahmen dieses Leser-Panels wurden die Leser auch gefragt, wie wichtig ihnen die gezeigten (vom IPJ aus dem Nachrichtenangebot aller teilnehmenden Zeitungen ausgewählten) überregionalen Ereignisthemen sind, zudem, ob sie ein weitergehendes Informationsinteresse an den fraglichen Themen hätten und, wenn ja, welches Medium diese Nachfrage am besten erfüllen könne. Die Befragten konnten auf einer Skala ihr Interesse mit einem Wert zwischen null (gar kein Interesse) und 5 (sehr interessiert) angeben.
Uns interessiert hier die erste der drei Fragen. Diese lautete für alle und jedes Mal gleich: „Interessieren Sie sich für diese aktuellen Vorgänge?“ In den hier ausgewerteten fünf Befragungswellen wurden den Lesern die Überschriften und Unterzeilen von insgesamt zwanzig überregionalen Ereignissen genannt, über die in allen beteiligten Zeitungen am Vortage berichtet wurde.
Topthema Krankenkassen
Fasst man nun alle Antworten zu Mittelwerten zusammen, so ergibt sich daraus eine Rangliste; an der Spitze steht das Thema, das den höchsten Interessenwert erzielt, am Ende dasjenige, das den geringsten ausweist. Die Schaubilder zeigen dieses Ranking: Den Spitzenwert von 3,9 erzielte die Nachricht, dass Deutschlands Krankenkassen Zusatzbeiträge verlangen (Welle vom Januar 2010). Knapp dahinter folgt die Nachricht, dass Politiker die Einführung einer PKW-Maut auf Autobahnen vorgeschlagen hätten; an dritter Stelle rangiert die Nachricht, dass es bei Opel zu Massenstreiks kommt (beide vom November 2009). Auf dem vierten Rang findet sich die Nachricht, dass die Bundesregierung den Bundesländern mit zusätzlichen Mitteln für das Bildungssystem unter die Arme greift (Dezember 2009), an fünfter Stelle rangiert die Meldung, dass die SPD die Entschärfung von Hartz IV fordere (April 2010).
Erst an sechster Stelle mit einem Interessenswert von 3,2 rangiert die Katastrophennachricht vom Erdbeben in China, welches damals (April 2010) die ganze Welt erschütterte. Es schließen sich nun die verschiedenen Skandalberichte zur Kundus-Affäre und dem Krach zwischen dem Verteidigungsminister und Bundeswehr-Generälen an (Winter 2009/10).
„Wichtig zu wissen“
Wieso haben die ersten fünf Nachrichten ein größeres Informationsinteresse generiert als die folgenden Skandal- und Katastrophenmeldungen? Man kann dies so erklären: Auch wenn diese fünf ersten Nachrichten sehr unterschiedlich sind, so haben vier davon für die Alltagswelt der Bürger eine unmittelbare Bedeutung. Auch wenn viele Zeitungen diese „Übersetzungsarbeit“ nicht leisten, also die Berichte in ihrem Nachrichtenteil auf einer eher abstrakten Ebene bringen und das Herunterbrechen des Themas ins Regionale oder Lokale unterlassen, so erkennen die Leser doch sofort, dass diese Vorgänge etwas mit ihnen zu tun haben und insofern bedeutsam sind.
Die anderen, auf den ersten Blick viel relevanteren Ereignisse werden natürlich ebenfalls für wichtig genommen (Werte über 2,5), doch nur als Information (Motto: wichtig zu wissen) oder auch als Aufreger, wie dies nun mal bei Skandalen und Katastrophen der Fall ist.
Ausreißer Opel
Der einzige Ausreißer ist die Meldung zum Streik bei Opel, die für die Leser keine direkte Auswirkung auf ihren Lebensalltag hat oder haben könnte – mit Ausnahme der Leser der FNP (wegen der Nähe zu Frankfurt-Rüsselsheim). Nun stand aber die Streik-Nachricht im Zusammenhang mit den vielen dramatischen Berichten über die drohende Pleite von GM, dann die Übernahmeverhandlungen von Opel, das Scheitern des Verkaufs usw. – also ein deutscher Wirtschaftskrimi, zu dem jene Meldung eine neue Folge im Auf und Ab bedeutete.
So weit, so klar. Doch wie sieht es in den verschiedenen Regionen aus? Hat Feinkosthändler Fritz Meier in Augsburg etwa das gleiche Relevanzempfinden wie die in der DDR aufgewachsene Frau Schmidt in Halle und wie das Lehrerehepaar in Frankfurt?
Die überraschende Antwort lautet: Ja (den Sonderfall Opel haben wir schon behandelt). Zwar ist das Informationsinteresse der Leser in den neuen Bundesländern an überregionalen Politik- und Katastrophenthemen etwas geringer als bei den westdeutschen Lesern, doch in Bezug auf die Ereignisthemen, die für den Alltag der Leute eine direkte Bedeutung haben (wir nennen sie „Transferthemen“), zeigen sich kaum Unterschiede – weder in der Gesamtbewertung dieser Themengruppe noch im Ranking der einzelnen Ereignisse: In Halle, Augsburg und Frankfurt ist das Krankenkassenthema top, unter den ersten fünf rangieren auch die PKW-Maut-Drohung, die Bildungsförderung und der Hartz-IV-Streit. Einzig bei den Lesern der Augsburger Allgemeinen besitzt die Kundus-Affäre eine größere Bedeutung, bei den Frankfurtern notabene das Drama um Opel (Näheres siehe Grafiken).
Top-Nachrichten aus dem Lokalen
Da es sich hier immer nur um überregionale Nachrichten handelt, könnte der Einwand lauten, dass die Zeitungsleser das lokale Geschehen sowieso für noch wichtiger halten; deshalb seien die wahren Top-Nachrichten die Berichte aus dem Lokalen. Und deshalb sind die Zeitungen gut beraten, wenn sie – wie zum Beispiel die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA) – das Blatt insgesamt umbauen und aus dem ersten Buch einen Lokalbund machen.
Es stimmt zwar, dass sich die meisten Zeitungsleser noch mehr fürs Lokale interessieren als fürs Überregionale. Und doch wäre – unseren Daten zufolge – diese Folgerung ein Fehlschluss. Denn die Menschen ab Mitte dreißig (und nicht nur die Zeitungsleser!) – dies zeigen unsere Erhebungen – unterscheiden zwischen der lokalen Nahwelt und der überregionalen Welt mit ihren (vergleichsweise abstrakten) Vorgängen, Themen und Ereignissen. Für jede dieser zwei Welten haben sie ein ausgeprägtes und zugleich spezifisches Relevanzgefühl: Im Lokalen ist ihr Interesse viel stärker auf Nutzwert, auf Folgenhaftigkeit und Alltagsorganisation gerichtet. Hier werden Themen und Vorgänge für topwichtig erklärt, die im Überregionalen als trivial erscheinen würden.
Sie lieben das Lokale
Vor allem die Kernzielgruppe der Tageszeitung – die etwas jüngeren, formal eher besser ausgebildeten Berufstätigen mit „Familienanschluss“ – trennt sehr deutlich zwischen dem Überregionalen und Lokalen: Jede dieser Welten hat ihre eigenen Werte und darum auch Relevanzkriterien: Das abgebrannte Feuerwehrhaus mit Bild und Text neben der kleinen Anrissmeldung über die Katastrophe in China mit tausenden Toten passen nicht zusammen. Zeitungen, die diese Welten zu stark vermischen und beispielsweise eine vom Lokalstoff dominierte Frontseite bauen, handeln sich Akzeptanzprobleme ein. Denn viele Leser reagieren etwa so: Liebe Zeitung, du bringst mir zwar das Lokale noch näher, aber du hast die Bedeutungsunterschiede zwischen Überregionalem und Lokalem übersehen. Jetzt deckt sich dein Informationsangebot nicht mehr mit meinem Relevanzgefühl.
Beispiel HNA: Seitdem sie unter der Devise „local first“ ihr erstes Buch zu einem Lokalbuch umgebaut und das Überregionale nach hinten verschoben hat, ist das Relevanzempfinden ihrer Leser sogar für das Lokale abgesunken; unseren Erhebungen zufolge liegt es derzeit tiefer als bei Regionalzeitungen, die klassisch mit dem Überregionalen beginnen und als zweites Buch das Lokale dahinter setzen.
Umgekehrt gesagt: Sowohl Fritz Meier wie auch Jutta Schmidt wie auch die Raubergers lieben das Lokale und lesen es oftmals zuerst. Doch sie wissen, dass es hier nur um ihre lokale Welt geht, die man liebt, auch wenn sie häufig kleinkariert wirkt. Anders die großen Themen: Die gehören nach vorn, sagt die große Mehrheit der Befragten: das Wichtigste zuerst.
Für die zeitungslesenden Menschen sind die Vorgänge die wichtigsten, die sich überregional ereignen und auf den Lebensalltag der Menschen auswirken, also auch auf die Alltagswelt der Leser – also im Lokalen. Diesen Transfer können nur Regionalzeitungen richtig gut erbringen. Könnten. Denn viele verschlafen diese Chance. Auch in unserem Fall: Von den hier berichteten sechs Transferthemen haben nur zwei Zeitungen nur zwei Mal (Krankenkasse und Auto-Maut) das Thema heruntergebrochen und zusätzlich im Lokalteil behandelt. Wir sind uns ziemlich sicher: Diese erzeugten das größte Informationsinteresse, gerade weil Überregionales und Lokales nacheinander in getrennten Büchern laufen.
Michael Haller ist Herausgeber von Message und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Praktische Journalismus-Forschung (IPJ).
Erstveröfffentlichung: Message Nr. 1 / 2011
Schlagwörter:Informationsinteresse, Instituts für Praktische Journalismusforschung (IPJ), Leser, Leser-Panel, Lokales, Nachrichtenauswahl, Überregionales, Zeitungen