Ein Jahr lang hat der Filmemacher Jean Boué für seinen Dokumentarfilm «Die letzten Reporter» drei Lokaljournalisten begleitet. Er versteht sich als stillen Beobachter einer laut ihm bedrohten Berufsform. Im Telefongespräch erzählt er, was den Lokaljournalismus für ihn ausmacht.
„Ich glaube, dass das Berufsbild dieser Menschen mal ein anderes war, als es heute ist. Ich glaube, dass die tatsächlich weniger auf das geschaut haben, was ihr Artikel bewirken wird, als auf das, was sie abbilden wollen“, so Boué. „Ich denke, dass es eine Verpflichtung gegenüber den lokalen Befindlichkeiten war, dass man die Dinge richtig oder so wahrhaftig wie möglich dargestellt hat. Und selbst wenn eine Sache so langweilig war, dass man es selbst kaum ausgehalten hat, dann wurde die Langeweile sozusagen eins zu eins durchgereicht.“
Boué ist seit Anfang der 90er Jahre Autor, Regisseur und Produzent von Dokumentarfilmen zu Themen der Gesellschaft, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in Kinos erscheinen. Vorher hatte er sich kurz als Journalist probiert. 2000 gründete Boué die Produktionsfirma JABfilm. Viele seiner Filme wurden auf Festivals gezeigt und international ausgestrahlt, einige erhielten Auszeichnungen. Informationen über seinen Dokumentarfilm „Die letzten Reporter“ von 2020 sind derzeit in der Mediathek des NDR abrufbar. Außerdem wird dort ein weiterer Film zur Verfügung gestellt, der mit Material von Boué arbeitet und unter dessen Regie produziert wurde: „Überleben im Lokaljournalismus“.
Für die Dokumentation haben Boué und sein Team drei Lokaljournalisten ein Jahr lang begleitet: Werner Hülsmann, damals Lokalredakteur der „Osnabrücker Nachrichten“, ist unter anderem für seine vor dreißig Jahren gestartete wöchentliche Kolumne „Werners Cocktail“ bekannt. Thomas Willmann ist Sportreporter für die „Schweriner Volkszeitung“ und das seit fünfundzwanzig Jahren – nun musste er digitales Storytelling lernen. Anna Petersen berichtet aus Bienenbüttel für die „Landeszeitung für die Lüneburger Heide“. Die junge Journalistin wurde 2021 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.
Alltag statt Sensation
Boué sagt, er habe in dem Film versucht, bestimmte Ereignisse und Befindlichkeiten der drei Protagonisten einzukreisen: Die Pensionierung von Werner Hülsmann, bei Thomas Willmann die Kurse zum Übergang von Print- zum Online-Journalismus. Anna Petersen war am Anfang der Dokumentation noch nicht angestellt, sie hatte ihren ersten Arbeitstag und wurde von der Freien zur Festen. Der Dokumentarfilm besteht vor allem aus unkommentierten Momentaufnahmen der drei Journalisten bei ihrer Arbeit. „Wir haben versucht, bedeutsame Momente aufzuspüren, auch wenn wir in den Redaktionsstuben dann einfach auch mal rumgesessen haben und gar nichts passiert ist.“
Denn wenn nichts passiere, bekomme man am meisten davon mit, was los sei. So langweilig wie es scheine, sei es dann nämlich gar nicht. „Das sind großartige Situationen, weil sie genau beschreiben, was uns ausmacht.“ Generell bevorzuge Boué in seiner Arbeit den Alltag im Gegensatz zur Sensation. „Ich denke, wann immer wir uns in Ausnahmezuständen bewegen, ist es praktisch nicht möglich, alltägliches menschliches Verhalten und auch die Interaktion zwischen Menschen abzubilden.“
Journalismus als Teil lokaler Identität
Seit fünfzehn Jahren leben Boué und seine Familie auf dem Land in einem Fünfzig-Seelen-Dorf. Die nächste Stadt ist zehn Kilometer entfernt. „Dort habe ich festgestellt, dass das Lokale so etwas wie ein Lebenselixier ist für die Leute hier.“ Sie brauchen etwas, worüber sie quatschen können, erklärt Boué. Und so müsse es auch jemanden geben, der das verbreite. „Die Leute wollen wissen, was aus dem Milchlaster geworden ist, der umgekippt ist, und aus welcher Molkerei der kam.“ Das komme von der natürlichen Neugierde der Leute und habe mit ihrer lokalen Identität zu tun, die auch auf lokalen Nachrichten beruhe.
Der Titel seines Dokumentarfilms ist zeitbezogen zu verstehen. Mit „den letzten Reportern“ meint Boué eine Berufsform, wie sie heute nur noch selten ausgeführt werde. „Ich glaube, dass die alten Reporter wahnsinnig damit bemüht waren, immer wieder bloß niemanden zu vergessen.“ Der Lokaljournalismus, den er zeigt, ist größtenteils noch analog und findet draußen statt und weniger vom Schreibtisch in der Redaktion aus: Mit Block und Stift am Rand des Sportplatzes, bei Kaffee im Garten einer Opernsängerin und mit Gummistiefeln auf dem Feld.
Mit dem Geklapper einer Schreibmaschinentastatur im Soundtrack des Dokumentarfilms spielt Boué auf eine vergangene Zeit an. Berichtet werde aus dem Alltag. Nicht mehr und nicht weniger. „Wenn ich sehe, welche Mutmaßungen, eins ums andere heute in der Zeitungslandschaft auftauchen, welcher Druck da herrscht, dass ständig eine Windung und eine neue Erkenntnis da sein muss, das ist ein pausenloser Wettbewerb. Das ist so aufregend wie ausführliche Beschreibungen eines Fußballspiels im Sekundentakt.“
Nachrichten als Grundbedürfnis
Der Lokaljournalismus sei Teil von etwas, das Boué natürliche Grundbedürfnisse nennt. „Es gibt Informationen, die braucht man, um in einem bestimmten Raum zu leben. Wie ich mit diesen Informationen umgehe, sie diskutiere oder ob ich sie nur für mich behalte, ist erstmal nicht wichtig. Aber dass es diese Informationen gibt, dass sie mir begegnen können, ist teilweise lebenswichtig.“ Und das sei auch nicht durch soziale Netzwerke ersetzbar.
„Ich glaube, dass das Lokale für einen demokratischen Diskurs wahnsinnig wichtig ist, um den Informationsfluss vom Lokalen zum Regionalen und vom Regionalen zum Nationalen zu gewährleisten. In beide Richtungen.“ Außerdem betont Boué, dass es im Lokaljournalismus nicht darum gehe, Menschen an die Wand zu nageln. „Dass der Kiesgrubenbesitzer mit dem Bürgermeister in irgendeinen Puff geht, das ist schon immer so gewesen, das wird sich auch nicht ändern.“ Vielmehr sei die lokale Berichterstattung eine Art geborgener Lebensraum. „Das Lokale ist ein geschützter Gerüchtegarten.“ Etwas vollkommen Absurdes werde nicht geglaubt.
Boués eigene journalistische Karriere war nur von kurzer Dauer. Eine Weile war er zum Beispiel in der Lokalberichterstattung für das Regionalfernsehen – „sehr erfolglos übrigens“ – tätig. „Ich hatte Interesse daran, aus anderen Blickwinkeln an Geschichten dran zu sein und das ist nicht unbedingt das, was man im Brot-und-Butter-Journalismus mag.“ Journalismus habe viel mit Neuigkeiten, mit etwas ganz Außergewöhnlichem zu tun – doch das habe den Regisseur nie so richtig interessiert.
Dieser Beitrag entstand im Seminar „Lokaljournalismus heute“ am Institut für Journalistik der TU Dortmund unter Leitung von Prof. Dr. Wiebke Möhring und Anna-Lena Wagner. Dieses findet im Wintersemester 2021/22 in Kooperation mit dem Regionalbüro Westfalen der Konrad-Adenauer-Stiftung statt.
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