Alice im Wunderland

10. September 2010 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Weltwoche Nr. 36 / 2010

Der Prozess gegen den Wetterfrosch Jörg Kachelmann ist Anlass für etwas journalistische Nostalgie.

Für die Bild-Zeitung ist es der «Prozess des Jahres». Stimmt. Die Causa Kachelmann hat alles, was ein Schauprozess braucht: einen ungeklärten Fall, ein unglaubhaftes Opfer, einen undurchsichtigen Angeklagten und unglaublich viel Sex. Gleich neun ehemalige Geliebte aus Jörg Kachelmanns Harem sollen vor Gericht aussagen.

Der Prozess des Jahres verpflichtet. Der Bild-Zeitung gelang darum ein schöner Zug. Als ihre Gerichtsreporterin engagierte sie die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer. Schwarzer hat schon einige gute Stücke über Alltagsdramen publiziert, etwa ihr Buch über den Tod von Petra Kelly und Gert Bastian und ihre Biografie von Romy Schneider. Der Prozess wird lange dauern.

Wir sind damit bei einem journalistischen Genre angekommen, das uns sehr am Herzen liegt. Es ist das Genre der Gerichtsreportage. Die Gerichtsreportage hatte vor dem Zweiten Weltkrieg ihre große Blüte. Führende Namen der Literaturgeschichte schrieben über Prozesse, Täter und Opfer. Es gibt große Gerichtsreportagen von Kurt Tucholsky, von Joseph Roth, von Gabriele Tergit und von Paul Schlesinger.

Ein Fall für Martin Suter

Schlesinger war der Beste von allen. Er schrieb unter dem Pseudonym Sling. Weil wir heute nostalgisch gestimmt sind, zitieren wir Slings berühmteste Passage aus einer Reportage von 1926. «Der Mensch, der schiesst, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen.»

Das ist verdammt gut. Es erklärt auch den Erfolg der Gerichtsreportagen in den zwanziger Jahren.

Der Grund lag im Positionsbezug der Journalisten. Sie sahen sich als Korrektiv zur obrigkeitlichen Justiz. Sie lieferten Milieustudien der Angeklagten. Es war aufklärerischer Journalismus. Mit demselben Ansatz hatten in den siebziger Jahren die Reporter Margrit Sprecher im Züri Leu und Gerhard Mauz im Spiegel enorme Resonanz.

Dann verloren die Journalisten zusehends die kritische Distanz zum Justizapparat. Die vierte Gewalt begann immer ungenierter mit der dritten Gewalt zu fraternisieren. Justizkritik starb weitgehend aus. Man steckte sich lieber gegenseitig Informationen zu.

Die Folge dieser Verbrüderung waren krasse Beispiele von Vorverurteilungen. Die Journalisten hingen nun den Staatsanwälten und Polizeisprechern an den Lippen und über- nahmen deren Versionen. Letztes eingängiges Exempel war der Prozess gegen Mario Corti und sein Swissair-Management. Monatelang trommelten Justiz und Medien vereint gegen die Übeltäter und forderten Höchststrafen für deren Verbrechen. Die Angeklagten wurden zur Enttäuschung der Journalisten freigesprochen.

Im Fall Kachelmann zeigte sich dasselbe Muster. Angeführt von Bild, Blick und Focus, wurden die Journalisten quasi zu Pressesprechern der Mannheimer Staatsanwälte. Täglich flüsterte die Justiz den Medien die neusten Verdachtsmomente ins Ohr. Die Medien druckten und sendeten das Geflüster ungeprüft und reicherten es zur Freude der Justiz mit allerlei schmutzigen Geschichten aus Kachelmanns Privatleben an. Erst als der Spiegel, die Zeit und die Weltwoche gegensteuerten, unterbrachen sie kurz die flotte Party der vereinigten Juristen und Journalisten.

Weil wir heute nostalgisch gestimmt sind, wünschen wir uns stattdessen die große Gerichtsreportage zurück. Den idealen Autor für den Kachelmann-Prozess hätten wir Schweizer sogar griffbereit. Besser als unser Krimi-Genie Martin Suter könnte das wohl niemand. Es müsste ihn nur jemand fragen.

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