Der Fall Christian Wulff liefert ein dreifaches Spiegelbild: Es zeigt den Zustand der Politik, der Medien und des Verhältnisses von Medien und Politik in Deutschland.
Die Art, wie Medien über das deutsche Staatsoberhaupt berichten, schwankt zwischen goldrichtig und gemein. Ja, sie müssen öffentlich machen, wenn ein deutscher Bundespräsident sich Privilegien verschafft für den Kauf seines Eigenheims.
Kritisieren, kontrollieren, an den Tag bringen, wo ein Amt missbraucht wird, gehört zu ihrem Kerngeschäft und ist Teil der Verantwortung, die Medienschaffende in einer demokratischen Gesellschaft haben; deshalb haben und brauchen sie Privilegien wie Auskunftsrechte, oder das Recht, Informanten zu schützen, und das Recht, auch verdeckt zu recherchieren, weil sonst etwas unter den Teppich gekehrt wird. Es ist ferner ein journalistisches Recht, Position zu beziehen, also zu argumentieren, welche Gründe gegen den Verbleib von Wulff im Amt sprechen und welche dafür.
Und Medien müssen ein Forum bieten, auf dem sich eine Gesellschaft über ihre moralischen Leitlinien verständigen kann. Denn jeder Skandal ist zugleich eine Art Gewitterschauer, der klärt. Auf die donnernde Empörung über ein Fehlverhalten folgt die Einigung im Diskurs, ob dieses Verhalten künftig Standard sein soll oder weiterhin untragbar. Konkret: Will man künftig Schwindeleien in wissenschaftlichen Arbeiten, wie sie der ehemalige deutsche Verteidigungsminister zu Guttenberg gleich massenweise praktiziert hat, als normal dulden? Einigt man sich, dass ab sofort Spitzenpolitiker Kredite zu Bedingungen erhalten, von denen die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Staate nicht einmal träumen können, und Freunde in Chefredaktionen oder Vorstandsetagen haben, bei denen zumindest der Verdacht bestehe, dass Gegengeschäfte gemacht werden. Ob im Falle des Zitierschwindels oder bei lukrativen Freundschaftsdiensten: einigt man sich auf ein Nein, kehrt insbesondere bei politischen Mandatsträgern die Ruhe nach dem Sturm meistens ein durch den Rücktritt desjenigen, dessen Verhalten den Skandal auslöste. Insbesondere wenn er sich ein Amt geliehen hat, das hohe Anforderungen an Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit stellt.
Bundespräsident ist ganz sicher ein solches Amt, es ist im Kern ein Repräsentationsamt. Die Richtlinienkompetenz, also die politische Kursbestimmung, verankert die deutsche Verfassung beim Kanzler. Das Amt des Bundespräsidenten wird traditionell geprägt durch die Person, die es innehat. Das erklärt, weshalb sich in Deutschland immer mehr Bürgerinnen und Bürger empören über die Art, wie sich ihr Bundespräsident verhält, Vorteile verschafft, nur scheibchenweise die Wahrheit zugibt, Sachverhalte verdreht. So jemand verliert in den Augen der Bürger an Würde – er, nicht das Amt, das er hätte ausfüllen sollen. Der „Spiegel“ greift dies in seinem aktuellen Titelbild auf (in der Schlagzeile „In Amt und Würden“ sind die Wörter „und Würden“ durchgestrichen).
Ja, es wird moralisiert. Das ist übrigens keineswegs ein deutsches „Phänomen“. Sonst wäre die Causa Hildebrand anders ausgegangen; der Nationalbankpräsident hat sich ja im Grunde an die Reglemente gehalten, aber moralisch bedenklich gehandelt. Sicher, die Welt ist nicht immer „gerecht“. Hildebrand mag hadern, weshalb ausgerechnet er in die Mühlen der „Weltwoche“ und eines Whistleblowers geriet. Wulff mag sich ärgern, dass manche Journalisten bei Politikern wie Franz-Josef Strauss deren „unkonventionelles“ Vorgehen als Zeichen für einen kantigen Charakter geradezu bewundert haben, es ihm aber ankreiden. Und wahrscheinlich gibt es noch etliche Unentdeckte, die auch nicht besser sind. Das mag ungerecht anmuten, heisst aber letztlich nur: Wo kein Kläger, da kein Richter – und bügelt keinen Fehler aus.
Jeden Tag, an dem Wulff am Amt klebt, wird mehr moralisiert. Manche finden es schrecklich, dass Medien wochenlang auf dieser Geschichte herumreiten. Das finde ich auch, aber aus anderen Gründen. Es ist erschreckend, dass heutzutage offenbar eine ganze Reihe an Missständen aufgetischt werden muss, ehe ein Mandatsträger zugibt, dass er seine Aufgabe wohl doch nicht richtig verstanden hat. Ich begreife nicht, weshalb Leute, die ja eigentlich selbst ganz genau und von vornherein das Ausmass ihres Fehlverhaltens kennen, das sie dann scheibchenweise zugeben, so lange an ihren Ämtern festhalten.
Darin spiegelt sich offensichtlich eine Art „deformation professionelle“ der „classe politique“: Mancher Politiker verliert Maß und Ziel, denkt, ihm stehe fast jedes Privileg zu, und vergisst, dass so manchem seine Freundschaft nur deshalb wichtig ist, weil diese Zugang zu politischen Machthebeln verschafft, und keineswegs, weil er so ein toller, netter Kerl ist. Das gilt übrigens ebenso für Journalisten. Auch sie neigen zu der Einfalt, man lade sie ein, weil sie so kluge Dinge schreiben. Doch auch sie vergessen, dass sie einfach nützliche Schleusenwärter am Eingang massenmedialer Plattformen sind.
Man hat in Deutschland gegenwärtig den Eindruck, hier gehe es um ein Tauziehen: Schafft es der Politiker, so lange am Sessel zu kleben, bis den Medien der Stoff und die Luft ausgeht und der Öffentlichkeit die Lust am Thema? Oder gelingt es den Medien, einen Politiker so lange mit peinlichen Recherchen über seine Fehler zu traktieren, bis er vom Stuhl fällt?
Allerdings: Jemanden mit Schmutz aus allen erdenklichen Kübeln zu bewerfen sowie Häme, Scheinheiligkeit und Kampagnen sind nicht Teil der Informations-, Kritik- und Kontrollfunktion von Journalisten, und wenn der „Bild“- Chefredaktor sagt, mit seinem Blatt fahre ein Politiker im Aufzug nach oben und je nachdem auch wieder nach unten, dann ist das schlicht anmaßend.
Der Fall Wulff ist eben ein dreifaches Thema. Es handelt von Medien, Politik und ihrer gegenseitigen Beziehung. Man muss diese Themenschichten genau trennen. Es ist relevant, dass der Präsident sich Vorteile verschaffte, aber eine Nebensache, was seine Frau früher getan hat und wer ihr die Kleider sponsert. Das geht Journalisten und die Öffentlichkeit nichts an, auch da haben Journalisten Verantwortung im Sinne einer „Ethik des Unterlassens“. Es ist zweitrangig, ob ein Politiker auf den Anrufbeantworter eines Journalisten spricht, aber völlig daneben und deshalb relevant, dass er versucht, die Berichterstattungsfreiheit mit Drohungen auszuhebeln. Es ist zu befürchten, dass auch andere Politiker ähnlich Medien unter Druck setzten. Umso wichtiger, sich endlich zu empören und deutlich zu machen, dass das nicht geht.
Was bleibt? Durch die Causa Wulff wurde kein Amt beschädigt, es hat sich lediglich ein Amtsinhaber diskreditiert. Es wurde wieder einmal klar, dass man unterscheiden muss zwischen der schlechten Nachricht und ihrem Überbringer. Und nicht die Journaille als solche hat sich blamiert oder als unfähig erwiesen, sondern einzelne haben dummes Zeug gefragt, skandaliert, geheuchelt. Jeder Mensch macht Fehler und verdient eine weitere Chance. Das muss aber nicht an derselben Stelle sein. Jeder Mensch ist an jedem Posten durch einen anderen ersetzbar. Politiker, Journalisten, jeder.
Erstveröffentlichung: Kleinreport vom 12. Januar 2012
Schlagwörter:Bundespräsident, Christian Wulff, Kontrolle, Kritik, Medien, Öffentlichkeit
Für mich ist es schon wichtig ob sich die Frau des Bundespräsidenten Kleider schenken lässt. Es ist eben eine Frage der Moral. Für mich gehört sich so etwas nicht! (Mag sein, dass diese meine Meinung meinem Alter (77) geschuldet ist.) Der Präsident und seine Gattin haben sich in jeder, ich betone jeder Hinsicht vorbildlich und untadelig zu verhalten. Wenn sie das nicht können, haben die beiden im Schloss Bellevue nicht zu suchen, so einfach ist das!
Hier noch ein Link mit Einschätzungen zum Schweizer “Parallelfall” Hildebrand: http://medienwoche.ch/2012/01/13/tadel-und-lob/#more-6409