Internetzugang ist kein Garant für Demokratie

30. Dezember 2013 • Digitales, Pressefreiheit • von

Russland, Aserbaidschan, Kasachstan und Weißrussland sind die autoritärsten Gesellschaften Osteuropas – interessanterweise sind sie in dieser Region aber auch die Länder mit der umfangreichsten Internetnutzung. Länder wie Georgien, Moldawien oder die Ukraine haben erheblich weniger Internetnutzer, schneiden aber hinsichtlich ihrer demokratischen Entwicklung weitaus besser ab.

Zu diesem Ergebnis kommt Natalya Ryabinska in ihrem Artikel ‚Neue Medien und Demokratie in postsowjetischen Ländern‘ (New media and democracy in post-Soviet countries) – wobei im Fall der Ukraine diese Aussage mit Blick auf die Geschehnisse seit November 2013 noch einmal zu prüfen wäre. Doch Ryabinskas Beitrag im Magazin New Eastern Europe, herausgegeben vom Jan-Nowak-Jeziorański-Osteuropa-Kolleg Breslau, nimmt die Entwicklungen in der Region über längere Zeiträume unter die Lupe.

Die jüngste Ausgabe des Nachrichtenmagazins mit Fokus auf Zentral- und Osteuropa steht insgesamt in diesem Zeichen, sie beschäftigt sich in einem Special mit der digitalen Entwicklung der Region und hinterfragt, ob neue Medien-Technologien den Prozess der Demokratisierung im ehemaligen Sowjetblock vorantreiben oder ob sie eher Überwachung, Zensur und Propaganda begünstigen.

Natalya Ryabinska wirft in ihrem Artikel einen Blick darauf, wie das Internet Politik und Gesellschaft in verschiedenen Ländern Osteuropas beeinflusst hat.

Frühere sowjetische Staaten haben relativ hohe Internetnutzungsraten, sie sind ähnlich hoch wie die in Frankreich oder Spanien. Doch gleichzeitig gibt es dort weiterhin eine große Schere zwischen den Personengruppen, die Zugang zum Netz haben, und solchen, die keine Chance dazu bekommen. Insbesondere unter den Einwohnern in kleinen Gemeinden und Orten sind für gewöhnlich weit weniger Menschen online als in Großstädten. In einigen Regionen und Ländern wie etwa Aserbaidschan sind die Verbindungen bis heute extrem langsam, während Telekommunikationsverträge in anderen Ländern wie etwa Usbekistan noch immer so viel kosten, dass sie für große Teile der Bevölkerung nicht erschwinglich sind.

Viele der ehemaligen Sowjetstaaten außerhalb des Baltikums haben noch immer Massenmedien, die – in unterschiedlichem Ausmaß – unter staatlicher Kontrolle stehen. Unter diesen Bedingungen ist das Internet eine wichtige Plattform, sowohl für Informationen unabhängiger traditioneller Medien als auch für Bürger-Initiativen in der Blogosphäre oder in sozialen Netzwerken. Bisher ist die Gruppe der Nutzer, die sich online ihre Informationen holen, in den osteuropäischen Ländern weitaus kleiner als das Publikum der traditionellen, offline verfügbaren Massenmedien. Internetbasierte Medien können in politisch kritischen Phasen in den jeweiligen Ländern und Regionen Hypes und Nutzungshöhepunkte erleben, etwa wenn Wahlen bevorstehen oder weitverbreitete Proteste organisiert werden. Doch ihr Einfluss bleibt meist sehr begrenzt, schreibt Ryabinska in ihrem Artikel.

Ein Blick nach Russland zeigt, wie dominant die herkömmlichen Massenmedien sind, obwohl sie erhebliche Defizite in der Berichterstattung aufweisen. So versäumen es die traditionellen Medien etwa noch immer, adäquat über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen oder über Demonstrationen gegen die Regierung zu berichten. Online-Nachrichtenportale sind in dieser Situation häufig die einzigen Medien, über die sich die Bevölkerung überhaupt informieren kann. Umfragen ergeben dennoch, dass diese Plattformen unter den Bürgern insgesamt weit weniger beliebt sind als die traditionellen Massenmedien und dass die Leute ihnen auch weniger vertrauen. Obwohl sich etliche Personen auch über Internetquellen informieren, setzen viele unter ihnen weiterhin stärker auf die Darstellungen und Interpretationen der regierungsnahen und kontrollierten TV-Sender.

Laut Ryabinska  kommt es zudem nicht unbedingt automatisch zu realen politischen Aktionen und Initiativen für Wandel, wenn Personen sich in einer eher obrigkeitskritischen, alternativen Informationsumgebung bewegen. Sie verweist dabei auf den IT-Spezialisten Evgeny Morozov und seine These vom so genannten ‚Slactivism‘ – also Wohlfühl-Aktivismus: Junge und gebildete Menschen ‚posten‘ und ‚liken‘ auf Facebook politisch oppositionelle Inhalte und retweeten sie, weil es sozial opportun ist, und ihnen das Gefühl gibt, etwas zu Veränderungen in ihrem Land beizutragen. Aus realen Protesten und Demonstrationen für konkrete Ziele halten sie sich jedoch heraus. Ein Grund für diese Passivität mag auch sein, dass die Oppositionsbewegungen in dem Land nur lose Verbindungen zu diesen Digital Natives haben, wodurch auch ihre Anziehungskraft auf diese Generation eher marginal bleibt. Ein weiterer Grund liegt allerdings nach der These über Slactivism in dem Wesen dieser neuen Gruppe von Aktivisten: Das Risiko, das mit Protesten auf der Straße für alle Beteiligten verbunden ist, schreckt viele von ihnen ab.

Zu dieser Diskrepanz zwischen Initiativen im Netz und in der realen Welt kommt hinzu, dass die Möglichkeiten der Artikulation und des Aktivismus im Netz gar nicht voll ausgeschöpft werden können. Zwar herrscht eine Rhetorik von der „Freiheit der Kommunikation und des Wortes“ vor, doch in der Realität gibt es etliche politische Hürden und Beschränkungen.

Eine Ahnung davon gibt der Jahresbericht der Organisation Freedom House 2012, der Georgien und die Ukraine als Länder mit freier Internet-Kommunikation deklariert, während Kirgistan, Kasachstan, Russland und Aserbaidschan nur als ‚teilweise frei’ und Weißrussland sowie Usbekistan als ‚unfrei’ gelten. Die Regierungen der letztgenannten Länder haben zahlreiche Instrumente zur Hand, um die freie Nutzung des Netzes zu unterdrücken: Sie verhängen rechtliche Beschränkungen für die Nutzer, führen schwarze Listen, auf denen Besucher bestimmter Seiten landen, veranlassen, dass indizierte Inhalte blockiert werden oder entfernen sie gleich komplett aus dem Web. Zudem beeinflussen einige Regierungen die Besitzverhältnisse von Netzbetreibern und Providern, üben Druck und Gewalt gegen Aktivisten im Netz aus und starten sogar Cyber-Attacken gegen Medien oppositioneller Kräfte, um sie auszuspionieren oder ihre Systeme lahmzulegen.

Die Obrigkeit überwacht ihre Bürger online häufig auch ohne konkreten Anlass und verbreitet aktiv Propaganda. In Russland kann die Regierung seit 2007 Kommunikationsdaten abfangen und auswerten, ohne dafür im Einzelfall eine explizite Ermächtigung zu haben. Regierungsnahe Organisationen sind online in hohem Maße präsent, bezahlte Blogger werden angeheuert, um Kommentare zu schreiben, welche die Regierungsarbeit idealisieren und die Opposition diskreditieren.

Natalya Ryabinska kommt zu dem Schluss, dass der Zugang zu Netztechnologien allein kein Garant für demokratischen Wandel in den ehemaligen Sowjetstaaten sein kann. Diese Länder haben noch immer schwache Zivilgesellschaften und Internetaktivismus allein kann dieses Vakuum meist nicht ausfüllen. Es bleibt am Ende doch eine politische Entscheidung der Regierenden der jeweiligen Länder, ob sie freie Meinungsäußerung und politische Partizipation in ihrer Gesellschaft zulassen, sodass sich demokratische Strukturen entwickeln können.

Übersetzt aus dem Englischen von Karen Grass

Original-Version auf Englisch: Digital Eastern Europe: Democracy Online and Off

Bildquelle: Screenshot vom Magazin New Eastern Europe

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