Fragen, nachfragen, hinterfragen: Die Corona-Pandemie macht in Deutschland zunehmend bewusst, wie wichtig Journalismus für eine demokratische Gesellschaft erst recht dann ist, wenn die Regierung Grundrechte einschränkt, um eine Krise zu bewältigen. Wie erfüllt Journalismus diesen Auftrag? Wie verändert er sich selbst durch die Krise? Eine Einschätzung aus medienethischer Perspektive.
Der 23. März 2020, als die Kontaktsperre verhängt wurde, ist für den Journalismus in Deutschland aus zwei Gründen ein historisches Datum. Einerseits veränderten sich die Arbeitsroutinen massiv, manche Einnahmequellen versiegen durch den bundesweiten Lockdown. Andererseits machen nicht zuletzt die mit dem Infektionsschutz begründeten erheblichen Eingriffe von Bundes- und Landesregierungen in Grundrechte auf Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit und Privatsphäre die Bedeutung von Informationsjournalismus klar.
In der Gesellschaft und auch im Journalismus selbst wächst wieder das Bewusstsein für das Kerngeschäft: Er muss die systemisch zugewiesenen Funktionen erfüllen, um das demokratische und soziale Miteinander auch über die Krise hinaus in seinen Grundfesten zu bewahren, muss also informieren, kritisieren, warnen, aber auch entwarnen. Die Leistung von Journalisten für einen gesunden gesellschaftlichen Diskurs ist vergleichbar bedeutsam wie die von Ärzten für den Erhalt der Volksgesundheit. Beide gelten als „systemrelevante“ Berufe einer Demokratie. Das rückt nun wieder ins Bewusstsein, nachdem lange Zeit teilweise sogar Journalist*innen selber oft nicht mehr so recht wussten, was genau ihr Auftrag ist.
Das harte Ringen zwischen Pflicht und Folgen, Gesinnungs- und Verantwortungsethik
Als das Coronavirus Deutschland erreichte, fühlten sich offensichtlich viele Journalist*innen umgeben von einem zunehmend dichteren Nebel der Unsicherheit, in dem sie herumstocherten und Orientierung finden mussten. Die Ausbreitung der Pandemie war so neu, so ungewohnt und auch so unmittelbar furchteinflößend, dass sich insbesondere viele Rundfunkjournalist*innen Zurückhaltung auferlegten in der Form einer Selbstbeschränkung auf die Vermittlungs- und Informationsfunktion, oft sogar schlicht auf reinen Verlautbarungsjournalismus: In einer Art patriotischem Schulterschluss mit Exekutive und Epidemiologie, so schien es, schlossen sie die Reihen, um Deutschland und sein Gesundheitssystem zu schützen. Der Gleichklang der Berichterstattung war keineswegs verordnet, sondern freiwillig. Die Folgen waren durchaus positiv, ganz so wie man es sich wünschte: ein Großteil der Menschen verstand letztlich, befördert auch durch diese Geschlossenheit und Entschlossenheit, den Maßnahmenkatalog und den Ernst der Lage. Politik, Epidemiologie und auch Journalismus empfahlen sich als unverzichtbare Vertrauensbastionen. Dies ging aber zu Lasten von kritischer Distanz, kritischem Diskurs und eigener Recherche.
Beides – der Gleichklang wie der Widerspruch – erklärt sich aus einem ethischen Kompass, an dem sich professionell arbeitende Journalisten ausrichten, mitunter auch intuitiv. Einem Kompass, der insbesondere in Zeiten der Unsicherheit die einzige Möglichkeit ist sich zu orientieren. Beide Sichtweisen zu reflektieren, ist notwendiges Handwerk und Zeichen für Professionalität.
Die Verpflichtung, für die Öffentlichkeit relevante Themen zu publizieren, Fakten zu prüfen, Machthabende zu kontrollieren und die Debatte zu organisieren über Themen, die die Menschen umtreiben, sind pflichtethisch gesehen berufsethische Werte und Normen, die im Kern nicht verhandelbar sind. Um journalistische Verantwortung zu vermessen, bedarf es aber auch noch der Abwägung zwischen einer solchen gesinnungsethischen Herangehensweise und einer verantwortungsethischen Einstellung, die die möglichen Folgen mitbedenkt. Diese Denkweise geht unter anderem zurück auf Max Weber. Gesinnungsethisch entscheidende Journalisten muten Veröffentlichungen dem Publikum auch dann zu, wenn diese sie z.B. verängstigen oder irritieren könnten, denn sie stellen die Folgen ihres Handelns hinten an. Verantwortungsethisch entscheidende Journalisten neigen bei Themen, bei denen sie negative Reaktionen vermuten, dazu, sie eher nicht zu veröffentlichen. Beides – das Berichten und das Nicht-Berichten – ist folgenschwer.
Die Anfangsphase der Berichterstattung über Corona in Deutschland lässt sich verantwortungsethisch rechtfertigen. Man kann argumentieren, dass die sie prägende Zurückhaltung bis hin zu einer Art Hofberichterstattung den Zweck haben konnte, nicht verantwortlich zu sein für die Folgen (mehr Infizierte!), die es auslösen könnte, z.B. Maßnahmen zur Sozialdistanz anzuzweifeln. Die gesinnungsethische Selbstverpflichtung auf eine kritische Haltung ist übrigens nicht gleichzusetzen damit, allem und jedem einfach aus Prinzip zu widersprechen.
Fragen ist immer eine journalistische Tugend
Fragen, nachfragen und hinterfragen ist das zentrale Mittel, um eine „wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit“ leisten zu können, die der Pressekodex Journalist*innen in seiner ersten Richtlinie aufträgt. Sie fragen quasi stellvertretend für die Bevölkerung: Wer kontrolliert, wie angemessen die Maßnahmen sind, die Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit und Datenschutz eingrenzen? Wie lassen sie sich wieder zurücknehmen? Welche Kriterien legt man an: Wirtschaftliche Daten? Infizierte? Viele Medien haben sich – nach anfänglichem Zögern – auf diese Tugenden besonnen. Journalismus muss auch in Krisen unbequeme und unpopuläre Fragen stellen, und zwar Fragen, die für die Öffentlichkeit wirklich bedeutsam sind. Dazu gehört, auch das Positive kritisch zu hinterfragen wie z.B. das milliardenschwere Hilfspaket, das das Bundeskabinett fast über Nacht auf den Weg brachte.
Journalismus muss darüber nicht nur informieren, sondern auch unter Hochdruck nachhaken, analysieren und einordnen, was dies etwa für die Krankenhäuser, die Unternehmen, die Selbständigen, die Mieter und Vermieter heißen kann, welche Erleichterungen das bedeutet, aber auch welche irritierenden Auslegungen es gab. Das zeigte das Beispiel eines Großunternehmens wie Adidas, das in den vergangenen Jahren hohe Gewinne erzielte, aber sich auf Nothilfen des Bundes bezog und für seine Filialen zum 1. April die Mietzahlung aussetzen wollte. Viel, auch öffentliche Kritik in Medienberichten an Adidas führte dazu, dass das Unternehmen einlenkte, sich entschuldigte und nun doch zahlte. Verantwortung gegenüber der Bevölkerung äußert sich auch darin, dass Medien offenlegen, nach welchen Kriterien sie Studiogäste auswählen, Themen anpacken und ob sie in ihrer Arbeit beeinträchtigt werden. Wenn z.B. die Landesregierung in Sachsen-Anhalt bei Pressekonferenzen Journalist*innen untersagt, direkt zu fragen und stattdessen Fragen über den Regierungssprecher quasi filtert, dann muss die Bevölkerung diese Einschränkung eines weiteren Grundrechts erfahren.
Wissenschaftslogik verstehen – und vermitteln
Bei Wissenschaftsthemen muss der Umgang mit Unsicherheiten auch für Journalismus Alltagsroutine werden. Nicht nur bezogen auf Corona, auch bei Themen wie Erderwärmung, Datensicherheit und vielen mehr, gibt es unterschiedliche, aber jeweils wissenschaftliche fundierte Prognosen und immer wieder neue Erkenntnisse, die die bisherigen revidieren. Das ist Kern jeder Wissenschaftslogik. Wissenschaft ist immer fehlbar, über den Irrtum und über die Überprüfung von Positionen entsteht am häufigsten Fortschritt. Unsicherheiten zu benennen ist ein Merkmal für (forschungs-)ethische Qualität und muss für Journalismus mehr als bislang zur Routine werden. Die Verpflichtung, wahrheitsgemäß zu berichten, bezieht sich auf das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt belegbar zutrifft, und darauf, publik zu machen, wenn neue Sachverhalte bekannt werden. Schon für den Ethiker Immanuel Kant war die Möglichkeit der Fehlbarkeit Teil der aufklärerischen Haltung. Ihm kam es darauf an, dass Menschen ihre Komfortzone verlassen, nachdenken, und sich auseinandersetzen.
Das führt auch auf ein Missverständnis hin, dem manche Journalisten und Talkmaster in der Corona-Berichterstattung aufsaßen und ebenso in der Berichterstattung zum Klimawandel: Der Auftrag, mehrere Perspektiven auf ein Thema zu zeigen, heißt weder, einem Klimaforscher einen Klimawandelleugner gegenüberzusetzen, noch, einem Virologen einem fachfremden Mediziner und Verschwörungstheoretiker entgegenzustellen. Mehrerlei Perspektiven aus der Klimaforschung oder der Epidemiologie zu präsentieren heißt, zwei Personen miteinander zu konfrontieren, die zwar unterschiedliche Schlussfolgerungen präsentieren, sich aber jeweils auf geprüftes Wissen stützen. Nur so lässt sich eine hohe diskursethische Qualität umsetzen, bei der die Kraft der Argumente entscheidet.
Der Versuchung der Heroisierung widerstehen
Die Virologen, die über Nacht zu Dauergästen in Talks, Podcasts und anderen Medienkanälen wurden, haben selbst immer wieder eingeräumt, dass sie nur von einem vorläufigen Erkenntnisstand aus argumentieren können. Dennoch folgten viele deutsche Medien der Versuchung, sie als unfehlbar darzustellen und sie zudem zu Helden zu machen, die das Land aus der Krise führen. Allein oder gemeinsam mit den Politikhelden vom Schlage eines Markus Söder, die etliche Medien auf den Sockel hoben, weil sie mit den strengsten Maßnahmen und massivsten Eingriffen in Grundrechte aufwarteten.
Nicht Virologen haben beansprucht, politische Entscheidungen treffen zu wollen, sondern manche Medien schoben ihnen das in die Schuhe. „Die Zeit“ polemisierte, ob Christian Drosten, der medial allgegenwärtige Virologe der Charité, der neue Kanzler sei, „Faz.net“ karikierte ihn mit einer Riesenimpfspritze, umringt von einer Art Kabinett aus Kollegen. Drosten kann solche Spitzen nicht ertragen, ihn empört das derart, dass er drohte: Wenn das so weitergehe, zögen er und möglichst auch seine Kollegen sich zurück und sagten nichts mehr. Es ist Drostens Entscheidung, ob er nicht mehr aushalten mag, in der Öffentlichkeit zu stehen und Gegenstand von – auch kritischer – Medienberichterstattung zu werden. Was er bisher erlebte, ist allerdings noch harmlos verglichen mit den Verletzungen, die Politikern etwa in sozialen Medien zugefügt werden. Irritierend finde ich, wenn einige Journalisten sich zusammentun wollen oder sollen, um Drosten zum „Bleiben“ zu bewegen, quasi mit dem Kollegenappell, ihn zu schonen.
Der Verlockung der Graphen-Euphorie standhalten
Datenjournalismus erzählt Geschichten aus Daten. Die Pandemie löste in Redaktionen insbesondere von Online-Plattformen geradezu eine Visualisierungseuphorie aus. Sie zerlegten das Leben in Zahlen, Knoten, interaktive Karten und in Kurven, die vor den Augen des Betrachtenden in Windeseile exponentiell steigen – zu Infizierten und Geheilten, zur Straßenauslastung, zum Internetverkehr, zu Video-Konferenzen. Das ist gut, weil sich so die Ausbreitung der Pandemie und manche daran gekoppelten Phänomene verdeutlichen lassen und weil es ohnehin in einer digitalen Gesellschaft wichtig ist, die noch immer weitverbreitete Angst vor Zahlen und Mathematik zu überwinden. Aber es wird dann verwegen, wenn die Dosis von Infografiken zu hoch wird und ihre Inhalte eher Wettkampfcharakter als Aussagekraft haben: Schlimmer, tödlicher, schneller, früher. Wann überholt Italien China? Wann übertreffen die USA Italien? An welcher Stelle finden wir Deutschland?
Und nicht nur, weil Menschen mitunter dazu neigen, Zahlen blindlings zu vertrauen, müssen Journalisten die Zahlen hinter den Schaubildern einordnen, relativieren und belegen, indem sie nicht vor allem mit ihnen spielen, sondern vermitteln, wie z.B. die regelmäßig von der John Hopkins Universität in Baltimore veröffentlichten Zahlen der Infizierten zu lesen sind (Wann und wer hat die Zahlen gemeldet, wie wurde getestet etc.). Oder ob Statistiken zur Corona-Todesrate Zahlen von Toten verarbeiten, die an Covid-19 gestorben sind oder vornehmlich an anderen Krankheiten. Verantwortungsbewusster Journalismus differenziert und prüft grafische Darstellungen auch darauf, ob sie informieren und veranschaulichen oder ob sie verzerren beziehungsweise dramatisieren, orientiert sich damit also an Empfehlungen, die auch im deutschen Pressekodex niedergelegt sind.
Neue Arbeitsroutinen, neue Unsicherheiten
Um den Informationshunger der Menschen zu stillen, ist Journalismus in Corona-Zeiten quasi unermüdlich im Einsatz. Das Problem dabei ist weder der Digitalisierungsschub, dem im Übrigen viele Journalisten Positives abgewinnen, noch sind es die Arbeitsbedingungen mit Homeoffices, für die private Küchen in Newsrooms umfunktioniert werden und das Computerkamera-Auge zumindest ein klein wenig den persönlichen Augenschein ersetzt. Das Problem ist das Damoklesschwert einer finanziell zunehmend bedrohlichen Lage. Zwar steigen Digital-Abonnements und Klickzahlen massiv; Nachrichtenportale, Zeitungen und Magazine sind in diesen Tagen gefragt wie noch selten. Aber zugleich sinken die Seitenumfänge, weil viel Sport- und Kulturberichterstattung wegfällt, Anzeigenerlöse brechen ein, denn geschlossene Geschäfte inserieren nicht. Von „Frankfurter Allgemeiner Zeitung“ bis „Dumont-Schauberg“, „Funke Mediengruppe“ bis „Spiegel Online“: In vielen Medienhäusern wird über Spar- und Hilfsprogramme nachgedacht und über Kurzarbeit, zum Teil wurde sie bei der Bundesagentur für Arbeit bereits beantragt. Die „Main-Post“ in Würzburg hat als eine der ersten Zeitungen ihre Redaktion in Kurzarbeit geschickt.
Die Qualität der Arbeitsbedingungen ist letztlich auch eine (unternehmens-)ethische Frage. Sie kann aber unter den aktuellen Umständen nur grundsätzlich angegangen werden. Bislang finanzieren sich private deutsche Medienhäuser überwiegend aus Anzeigen, Abonnements, Veranstaltungen (Reisen, Kongresse etc.), öffentlich-rechtliche Häuser vor allem aus Gebühren. Die Gleichung von Nachfrage und Angebot ging aber bei Medienhäusern nie ganz auf. Sie schaffen in Deutschland auch sogenannte meritorische Güter – wie auch der Gesundheits- und Bildungssektor –, die für die Menschen in einem bestimmten Umfang verfügbar sein müssen. Das ist es letztlich, was die Einordnung von Informationsjournalismus als systemrelevant bedeutet: Menschen müssen Zugang haben zu Informationen, die sie in die Lage versetzen, mündig wählen und mitreden zu können. Die Entwicklungen im Medienbereich in der Corona-Krise zeigen, dass spätestens nach der Rückkehr in den Normalmodus über eine Geschäftsgrundlage nachgedacht werden muss, die dies besser gewährleistet. Eine erweiterte Mediengebühr, die ja letztlich eine Solidarabgabe für eine demokratische Gesellschaft ist, Community- oder Stiftungsmodelle, die Einordnung von Journalismus als gemeinnützige (und damit steuerbegünstigte) Leistung und manches mehr: Ideen gibt es längst, auch Umsetzungsbeispiele. Aber noch kein Gesamtkonzept.
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Schlagwörter:Corona-Krise, Coronavirus, Covid-19, Demokratie, Gesinnungsethik, Medienethik, Verantwortungsethik