Eine „New Wave“ des ukrainischen Journalismus

22. September 2023 • Aktuelle Beiträge, Internationales, Qualität & Ethik • von

Der Ausbruch des Krieges hat in der Ukraine junge Menschen in den Journalismus geführt, die eigentlich völlig andere Karrierepläne hatten. Fehlende formelle Ausbildung gleichen sie mit Enthusiasmus und Flexibilität aus. Sie unterscheiden sich so sehr von den etablierten Strukturen, dass unsere Autoren eine „Neue Welle“ im ukrainischen Journalismus ausmachen – mit Chancen und Risiken. Über diese New Wave berichten sie hier aus der Innenperspektive.

Messenger sind als Informationsquellen in der Ukraine inzwischen ebenso beliebt wie traditionelle Medien, doch die Herkunft der Inhalte ist oft unklar. Die „New Wave“ möchte diesem Trend verifizierbare Inhalte entgegensetzen (Foto: Marcus Kreutler).

Mit dem größten Krieg, der seit dem Zweiten Weltkrieg mitten in Europa ausgebrochen ist, kommt die neue Welle ins Spiel – mobil, flexibel, einzigartig, diversifiziert und frisch. So wie der Zweite Weltkrieg den „Radiokrieg“ oder der Vietnamkrieg den „Fernsehkrieg“ in Millionen von Wohnzimmern gebracht hat, so hat der russisch-ukrainische Krieg den „Online-Krieg“ hervorgebracht.

Laut einer Untersuchung der soziologischen Forschungsgruppe „Rating“ haben die Ukrainer:innen im Jahr der umfassenden Invasion Russlands begonnen, sich viermal häufiger auf Telegram- und Viber-Kanäle als Nachrichtenquellen zu verlassen. Heute ist die Beliebtheit von journalistischen Medien und Messengern bei den Ukrainer:innen praktisch gleich. Viele sind aus anderen Berufen in die Branche gewechselt, und das Informationsfeld besteht aus den unterschiedlichsten Themen. Diese Entwicklung bringt zwangsläufig Probleme mit sich, vor allem in Bezug auf Manipulation, Sicherheit, Authentizität der Informationen und deren Qualität. Wir haben mit zwei Journalist:innen der neuen Welle – Fedir Petrov und Anna Ivanova – über diese Risiken gesprochen.

Im Jahr 2022 war Fedir Petrov Politikstudent in München und hatte die Gelegenheit, von Zeit zu Zeit seine Heimat Kiew zu besuchen. Eine seiner Reisen nach Hause kollidierte mit der groß angelegten Invasion und er blieb in der Ukraine. Vor dieser Zeit hatte er den Journalismus nie als möglichen Berufsweg in Betracht gezogen. Er wurde rein zufällig Journalist, als er im letzten Moment für einen Produzenten im Fotostudio eines Freundes einsprang. Zunächst filmte er mehr, später begann er für den Spiegel zu schreiben. Fedir Petrov schreibt, fotografiert und reist mit einem Team von Journalist:innen.

Journalistische Qualität nimmt ab

Aus Sicht von Fedir Petrov ist der Telegramm-Journalismus kein Qualitätsjournalismus: Sehr oft würden Informationen nicht überprüft, und sie können manipulativ sein. Durch seine Arbeit beim Spiegel, wo jeder Artikel stundenlang analysiert wird, weiß er, wie wichtig es ist, dass die Gesellschaft über Kompetenzen im Umgang mit Medien verfügt und ein Interesse an hochwertigen Informationen kutliviert. In der Ukraine gibt es viele hochwertige Publikationen, aber die Popularität bestimmter, vor allem anonymer Nachrichtenquellen, schadet sowohl dem Mediensektor im Allgemeinen als auch der Stabilität des Landes angesichts der Bedrohung durch Provokationen von außen.

Laut Studienergebnissen sind 95,5 % der ukrainischen Telegram-Nutzer:innen in erster Linie an Nachrichten über militärische Operationen interessiert, 90 % an Nachrichten über Raketen- oder Drohnenstarts. 81% der Befragten gaben an, dass sie an Informationen über politische Ereignisse in der Ukraine und auf der internationalen Bühne interessiert sind. 80,2 % der Befragten äußerten Interesse an Nachrichten über wichtige Informationen für den eigenen Alltag, zum Beispiel über Stromausfälle. Der gleiche Anteil (80,2 %) interessierte sich für Nachrichten über Tote und Verwundete.

„Je mehr die Gesellschaft in den Qualitätsjournalismus investiert, desto größer ist der Nutzen für die Demokratie“, sagt Fedir Petrov. Mit der Verbesserung des Bildungssystems und der allgemeinen Lebensqualität wird sich in der Gesellschaft auch das Bedürfnis entwickeln, qualitativ hochwertige Inhalte zu konsumieren. Ein ernsthaftes Risiko der neuen Welle des Journalismus bestehe jedoch darin, eher den passiven Konsumenten als den gebildeten Leser hervorzubringen. Chancen bestünden dagegen in der Ausbildung einer mobilen, diversifizierten und qualitativ hochwertige Basis des neuen Informationsraums.

Anna Ivanova ist eine der engagierten Journalistinnen, die an der Verwirklichung dieser Chancen arbeiten. Für sie ist die Arbeit als Fixerin – also als lokale Produzentin für ausländische Medien – eine Gelegenheit, den Diskurs zu gestalten und kulturelle Fehlinterpretationen durch Journalist:innen zu vermeiden, um so ein gesundes Informationsumfeld zu schaffen. Vor 2022 arbeitete Anna Ivanova als visuelle Produzentin, konzentrierte sich auf Fotografie und lebte in Italien. Der Februar 2022 hat für sie jedoch alles verändert. Seit März 2022 arbeitet sie als Fixerin für die New York Times. Auch Anna Ivanova kam eher zufällig zum Journalismus, durch die Einladung ihrer Freunde. Sie will den Beruf wieder aufgeben, sobald der Krieg vorbei ist, aber jetzt ist er ihr ganzes Leben.

Der Kampf gegen Manipulationen

Der Beginn der Invasion gab nicht nur neuen Medienschaffenden den Anstoß, sich dem Journalismus zuzuwenden, sondern führte auch dazu, dass viele Leser:innen auf schnelle und unzuverlässige Informationsquellen zurückgriffen. „Mobile“ und zugängliche Nachrichten sind ein charakteristisches Merkmal des neuen Journalismus, sie mussten zwangsläufig als Reaktion auf einen groß angelegten Krieg entstehen, denn Information bekämpft wirksam die Angst. Auf der anderen Seite sind Angst und Leichtgläubigkeit die Grundlage für Manipulation und den Verkauf eines minderwertigen Produkts.

Einer Umfrage zufolge glauben 45,2 % der Ukrainer:innen, dass Telegram-Kanäle nur verifizierte Informationen enthalten, und die meisten Befragten sehen von einer weiteren Überprüfung der erhaltenen Informationen ab. Während der Fokusgruppendiskussionen gab nur ein kleiner Teil der Befragten an, dass sie nicht bereit sind, Zeit für die Überprüfung und Lektüre falscher oder manipulativer Nachrichten zu investieren, und sich daher sofort von entsprechenden Kanälen abmelden.

Andere Teilnehmende der Fokusgruppe waren gegenüber falschen Informationen „loyaler“. Wenn eine Entschuldigung veröffentlicht wird und die Informationen korrigiert werden, lesen sie solche Telegram-Kanäle weiter. Wenn sie dagegen Systemfehler sehen, melden sie sich ab. „Einige Befragte glauben, dass es sich bei den falschen Informationen nicht um Fälschungen handelt, die gezielt ins Netz gestellt werden“, heißt es in der Mitteilung.

Kaum kritische Evaluation der konsumierten Telegram-Kanäle

Darüber hinaus ging aus den Fokusgruppendiskussionen hervor, dass die meisten Teilnehmenden die Eigentümer:innen ihrer abonnierten Telegram-Kanäle nicht kennen. Die Ausnahme sind personalisierte Kanäle oder solche, die zu staatlichen Strukturen, Behörden oder Redaktionen bekannter Medien gehören. Gleichzeitig ist die vorherrschende Meinung, dass man durchaus Nachrichten von einem  Telegram-Kanal konsumieren könne, ohne dessen Hintergründe zu kennen.

Sowohl Anna Ivanova als auch Fedir Petrov bestätigen, dass in dieser neuen Welle des Journalismus formale Qualitätskriterien an Bedeutung verlieren. Sie sind jedoch notwendig, wenn es etwa um Urheberschaft und Verantwortung für die Wahrhaftigkeit von Informationen in Nachrichtenangeboten geht. Acht Jahre hybrider Krieg und anderthalb Jahre regelrechter Krieg in der Ukraine haben eine so starke Resonanz hervorgerufen, dass eine neue Welle im Journalismus entstanden ist: Informell qualifizierte, aber hochgradig anpassungsfähige Medienschaffende haben ein Netz von Verbindungen innerhalb der weltweit führenden Medien geschaffen und den Journalismus horizontal erweitert. Die Risiken einer solchen Entformalisierung liegen auf der Hand. Doch auf der Haben-Seite stehen vielversprechende Perspektiven für die Vielfalt und die Meinungsfreiheit, während gleichzeitig das allgemeine Engagement im Informationsbereich erhöht wird.

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