„Die Spreu vom Weizen trennen”

17. April 2014 • 10 Jahre EJO, Qualität & Ethik • von

Der heutige Chefredakteur der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera, Ferruccio De Bortoli, machte 2004 den Auftakt: Er war der erste international angesehene Journalist – zu diesem Zeitpunkt war er Chefredakteur der Wirtschaftstageszeitung Sole 24 Ore –, der im Rahmen einer Konferenzserie des European Journalism Observatory (EJO) als Referent und Gesprächspartner nach Lugano kam.

Marcello Foa, einer der beiden Gründer des EJO, hat jetzt mit ihm neuerlich über den Wandel und die Zukunft des Journalismus gesprochen. De Bortoli betonte, dass sich Qualität weiterhin auszahlt – im Print- wie im Online-Journalismus – und dass es weiterhin mutige, erfahrene und unabhängige Journalisten braucht.

Marcello Foa: Vor zehn Jahren waren Sie einer der wenigen Chefredakteure, die den Untergang der gedruckten Zeitung  prognostizierten. Was sagt Ihnen Ihre Intuition heute? Gibt es eine Zukunft für Print?

Ferruccio De Bortoli: Als erstes möchte ich betonen,  dass noch nie so viele Zeitungen – in ihren verschiedenen Ausprägungen – gelesen wurden wie heute. Ihre Relevanz, gestützt auf Authentizität, Glaubwürdigkeit  und Originalität der Recherche strahlt auf das Internet ab, wo Print-Inhalte häufig diskutiert werden, mitunter sogar nur, um Zeitungen anzugreifen oder sich über sie lustig zu machen.

Zwar werden nutzergenierte Inhalte immer wichtiger und beeinflussen auch die Themenauswahl in den Redaktionen, aber sie bedürfen noch immer eines Qualitätschecks, den derzeit nur die traditionellen Medien zu leisten vermögen. Die Auflagen der Zeitungen sind unausweichlich auf Talfahrt, aber digitale Abonnements kompensieren diesen Rückgang zusehends. Qualität, gekoppelt mit Unabhängigkeit und Transparenz, zahlen sich weiterhin aus.

Bis vor einigen Jahren hatten die traditionellen Medien und vor allem die großen Zeitungen wie Corriere della Sera, New York Times, Le Monde noch eine Schleusenwärter-Funktion. Sie entschieden, welche Nachrichten es wert waren, veröffentlicht zu werden. Solange die großen Medien bestimmten Ereignissen keinen Platz einräumten, war es für die breite Öffentlichkeit so gut wie unmöglich, etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Heute besitzen Zeitungen dieses Privileg nicht mehr, man kann sich auch über andere Quellen informieren. Beunruhigt Sie diese Tendenz? Sind Blogs, News-Aggregatoren, soziale Medien und Websites von einzelnen Journalisten wirklich eine Alternative zu den traditionellen Medien?

Natürlich haben digitale Medien, soziale Netzwerke und Bürgerjournalismus die Weise, wie wir arbeiten und über Zeitungen denken, revolutioniert. Nachrichten werden ohne Überprüfung sofort veröffentlicht, auch wenn größere Vorsicht angebracht wäre. Oft rangiert die Schnelligkeit vor der Genauigkeit. Aber es wäre falsch, die Impulse des Internets – die oft von kleinen Splittergruppen ausgehen, welche ihrerseits mitunter extreme Positionen vertreten – ungeprüft als verlässliche Aussagen aufzunehmen und sie über unsere Medien an die Öffentlichkeit weiterzureichen. Eine Zeitung muss ihre eigenen Positionen beibehalten, auch wenn sie manchmal unpopulär sind. Sie darf sich nicht von sozialen Netzwerken beeinflussen lassen, sie würde sonst ihre Identität verlieren.

Blogs und Aggregatoren sind interessante und innovative Phänomene, einige sind von guter Qualität, andere fischen mit ihren Schleppnetzen im Trüben der Gesellschaft. Wenn man sich anguckt, wie sich Verschwörungstheorien, Rassismen und Falschmeldungen  im Internet zu unumstrittenen Wahrheiten verwandeln, lernt man erst die Rolle eines professionellen Journalismus zu schätzen, der die Spreu vom Weizen trennt – und der nur den Weizen herausfiltert, also das, was wirklich wichtig ist.

Die Enthüllungen von Snowden lassen Ängste und Sorgen totaler Kontrolle in unseren Gesellschaften zunehmend als berechtigt erscheinen – das Szenario scheint vielen schlimmer, als sich das George Orwell 1984 mit seinem „Big Brother” vorzustellen vermochte. Teilen Sie diese Ängste? Kann man noch von Pressefreiheit sprechen, wenn sich die Privatsphäre und die persönliche Freiheit so einfach mit Hilfe von E-Mail und iPhone, Google- und Facebook-Accounts kontrollieren und aushebeln lässt?

De facto existiert keine Privatsphäre mehr, aber sie ist ein subjektiver Anspruch, der in Italien und in Europa verfassungsrechtlich abgesichert ist. In den USA gibt es dagegen nur einen relativ simplen Konsumentenschutz.  Es geht um das große Thema individueller Freiheit in der Informationsgesellschaft. Warum werden unsere persönlichen Daten zum Eigentum amerikanischer Großunternehmen – losgelöst von internationalem Recht? Und warum werden diese Daten dann obendrein noch Regierungen zugänglich gemacht, die in manchen Fällen noch nicht einmal demokratisch legitimiert sind? Ist Snowden ein „Whistleblower”? Okay, das ist er wohl  – aber unsere Aufgabe ist es nicht, Dateien zu entwenden und Information an die Öffentlichkeit durchsickern zu lassen, ohne eine Auswahl zu treffen und ohne zu entscheiden, was wichtig und was nutzlos oder trivial ist. Wir sind von Beruf Journalisten, nicht Geheimagenten.

Sie haben schnell und steil Karriere gemacht. Aber stellen Sie sich vor, Sie wären heute 20 Jahre alt, würden Sie dann erneut im Journalismus tätig werden? Wäre es das noch wert?

Journalist zu sein ist der schönste Beruf der Welt, auch wenn ich manchmal den Eindruck habe, es ist auch deren zweitältestes Gewerbe. Die Digitalisierung hat den Journalismus und die Journalisten nicht obsolet werden lassen – im Gegensatz zu anderen Wirtschaftssektoren, die von der technologischen Revolution erfasst wurden. Die neuen Plattformen brauchen mutige, erfahrene und unabhängige Journalisten. Sonst wären Netzwerke und andere Plattformen irrelevant,  voller nutzergenerierter Gülle, die keiner braucht. Angebrochen ist die Ära des „globalen“ Journalisten, der die neuen Technologien zu seiner Verfügung hat, der sich eigenständiges Denken bewahrt und sich auch nicht in trügerischer Klickraten-Popularität sonnt. Der Journalist von heute kann sich mit großer Freiheit neuen Herausforderungen stellen. Eine außergewöhnliche Chance – solange er kein Maschinenstürmer ist und sich nicht kollektiven Ängsten beugt.

Original-Version auf Italienisch: Ferruccio De Bortoli: “È l’ora del giornalista globale”

Bildquelle: Niccolò Caranti / Wikimedia Commons

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