Mr. Public Service

2. März 2016 • Qualität & Ethik • von

„Spotlight“, Gewinner des Oscars für den besten Film des Jahres, erinnert daran, was ein guter Chefredakteur wie Marty Baron bewirken kann.

Spotlight

„Journalismus wird im Film entweder verdammt oder verherrlicht“, sagt „Spotlight“-Regisseur Tom McCarthy. Sein Oscar-prämierter Film missachtet die Konventionen Hollywoods und tut weder das eine noch das andere. Fast dokumentarisch, ohne Action oder Spezialeffekte, zeichnet der Streifen nach, wie ein vierköpfiges Reporter-Team des „Boston Globe“ Anfang der 1980er Jahre nach Monaten akribischer Recherchen aufdeckt, dass die katholische Erzdiözese den Jahre dauernden Kindsmissbrauch Dutzender pädophiler Priester vertuscht. Das Blatt hatte damals eine Auflage von über 400.000 Exemplaren.

„Wir haben zu zeigen versucht, wie Journalisten vorgehen, dass das harte und wichtige Arbeit ist“, erzählt der Regisseur: „Es braucht Institutionen (wie die Presse), um über andere Institutionen zu wachen.“ Der „Boston Globe“ hat 2003 für die Enthüllungen über die unrühmliche Rolle der katholischen Kirche den begehrten Pulitzer-Preis für Public Service erhalten – „eine Anstrengung, die eine Wand des Schweigens durchstieß, lokal, national und international Wirkung zeigte und in der römisch-katholischen Kirche Veränderungen auslöste.“

Eine wichtige Rolle in „Spotlight“ spielt Chefredakteur Marty Baron, heute Leiter der „Washington Post“. Neu aus Miami nach Boston gekommen, war Baron mit den lokalen Machtverhältnissen nur wenig vertraut und wusste anders als seine Untergebenen kaum, welch prominente Platz die katholische Kirche in der Hierarchie der größten Stadt in New England einnahm. Umso größer das Erstaunen der unter dem Namen „Spotlight“ operierenden Rechercheure, als der neue Chef sie beauftragte, Näheres über die Hintergründe einer Kolumne herauszufinden, die den angeblichen Kindsmissbrauch katholischer Priester in Boston thematisierte.

Stoisch, humorlos, mürrisch

Für Walter V. Robinson, den erfahrenen Leiter des 1970 gegründeten Teams, war der unmissverständliche Wunsch des Chefredakteurs erst „ein Auftrag aus der Hölle“. Er realisierte, dass seine Leute, alle Katholiken, gegen „die größte heilige Kuh der Stadt“ würden antreten müssen – in Boston ein fast unüberwindbares Hindernis.

„Wie erfährst du etwas über eine Institution, die weder die Verpflichtung noch die Neigung verspürt, Dokumente öffentlich zu machen oder etwas über ihr Innenleben preiszugeben?“, fragte sich Robinson. Die Antwort? Durch exakte, mutige und unermüdliche Recherchen, durch geduldiges Zusammensetzen kleiner Puzzleteile, bis sie ein aufschlussreiches Gesamtbild ergeben.

Marty Baron ist kein Typ, der das Rampenlicht sucht. Ihn stört auch nicht, dass der zweistündige Film ihn als „stoischen, humorlosen, etwa mürrischen Charakter zeigt, den viele professionelle Kollegen sofort wiedererkennen und den meine engsten Freunde aber nicht so wahrnehmen.“

Skeptisches Publikum

Trotzdem hat er, „aller journalistischen Objektivität zum Trotz“, darauf gehofft, dass „Spotlight“ sämtliche sechs Oscars gewinne, für die der Film nominiert worden ist: „Ich fühle mich allen gegenüber verpflichtet, die ein Werk realisiert haben, das mit unheimlicher Authentizität dokumentiert, wie Journalismus praktiziert wird und mit gedämpfter Überzeugung argumentiert, warum Journalismus notwendig ist.“ Am Ende gewann „Spotlight“ zwei Oscars: für den besten Film und das beste Drehbuch.

Wichtiger als eine kleine Statue, räumt Marty Baron ein, sei für ihn jedoch der Einfluss, den der preisgekrönte Streifen längerfristig habe: „Die schönste Belohnung wird es sein, wenn dieser Film Wirkung zeigt: Auf den Journalismus, wenn Besitzer, Verleger und Chefredakteuren sich neu auf investigatives Berichten besinnen.“ Wirkung auch „auf ein skeptisches Publikum, wenn Bürgerinnen und Bürger zur Einsicht gelangen, dass die Berichterstattung über lokales Geschehen und starke journalistische Institutionen wichtig sind.“

Hartnäckiger Journalismus

Und Wirkung schließlich „auf alle von uns, wenn wir uns wieder dazu durchringen, den Machtlosen und allzu oft Schweigenden Gehör zu verschaffen, einschließlich jener, die sexuell oder sonst wie missbraucht worden sind.“ Erste Reaktionen, so Baron, hätten ihm gezeigt, dass der Film innerhalb eines arg gebeutelten Metiers erste heilende Wirkung entfalte: „Wir haben die traumatisierenden finanziellen Folgen des Internets erlebt und sind von allen möglichen Seiten beschimpft worden, jüngst besonders von Politikern während eines Wahlkampfs, in dem wir (von Donald Trump) als ‚Abschaum‘ bezeichnet worden sind.“

Zum Beispiel habe ihm der Reporter einer größeren nationalen Zeitung berichtet, er habe sich den Film mit der ganzen Familie angesehen: „Meine Kids finden plötzlich, ich sei cool.“ Auch aus dem Publikum hätten ihn positive Reaktionen erreicht. „Habe soeben ‚Spotlight‘ gesehen“, schrieb ein Kinobesucher auf Twitter “und bin daran erinnert worden, wieviel Gutes hartnäckiger Journalismus bewirken kann.“

Schwierige Ziele

Lob für den „Boston Globe“ hatte es bereits nach dem Gewinn des Pulitzer-Preises 2003 gegeben – von der Konkurrenz. Bob Woodward von der „Washington Post“, zusammen mit Carl Bernstein im Film „All the Presidents‘ Men“ über den Watergate-Skandal verewigt, bemerkte, es erfordere besonderen Mut seitens von Chefredakteuren und Verlegern, eine Berichterstattung zu unterstützen, die täglich in kleinen Schritten erfolgt.

Viele Reporter, meinte Woodward, würden es sich zu leicht machen und Skandale aufdecken, die kaum von Bedeutung seien: „Ich sorge mich manchmal, dass wir nicht die wirklich schwierigen, wichtigen Ziele anvisieren, die von überragender Bedeutung sind. Deshalb verneige ich mich vor dem ‚Globe‘, weil es kein schwieriger zu treffendes Ziel als die katholische Kirche gibt.“

Berufsethos des Journalismus

Doch der 62-jährige Marty Baron macht sich heute keine Illusionen darüber, was „Spotlight“ längerfristig bewirken kann: „Nicht nur sind inzwischen (seit jener Zeit in Boston) die Mittel geschwunden, auch der Wille (investigativen Journalismus zu betreiben) hat nachgelassen.“

Trotzdem macht sich der Chefredakteur der „Washington Post“ noch immer für jene Art von Lokaljournalismus stark, wie ihn der Film zeigt: „Wenn wir über gesellschaftliche Themen in unserem Einzugsgebiet berichten, dann kostet es Geld, den Dingen auf den Grund zu gehen. Investigativer Journalismus ist nicht billig.“ Obwohl die Spezies, wie Baron einräumt, im Print eher als Luxusprodukt gilt und sich digital nicht so gut verkauft.

„Den Film ‚Spotlight‘ dazu zu benutzen, den guten, alten Zeiten des Printjournalismus nachzutrauern, wäre verfehlt“, schreibt denn in der „New York Times“ Filmkritiker A. O. Scott: „Der Streifen feiert einen ganz speziellen beruflichen Erfolg und fängt liebevoll das Berufsethos des Journalismus ein. Er verteidigt dessen Ehre in einer Zeit, die dieses Metier zunehmend verachtet.“ Dies, obwohl der Begriff „Lügenpresse“ in den USA noch nicht so geläufig ist wie in Deutschland oder hierzulande – eine Nachlässigkeit des deutschstämmigen Donald Trump?

Positive Wirkung

Marty Baron schreibt in der „Washington Post“, er habe auf seinem Pult in Boston bis zum Weggang 2012 einen Brief aufbewahrt, den ihm seinerzeit ein Priester schickte, der sich vergeblich für Opfer des sexuellen Missbrauchs innerhalb der Kirche eingesetzt hatte. „Als einer, der Jahre lang dafür gekämpft hat, dass Opfern und Überlebenden (des Missbrauchs) Gerechtigkeit widerfährt, danke ich Ihnen mit allem, was ich habe“, schrieb Thomas P. Doyle dem Chefredakteur: „Ich versichere Ihnen, dass nicht adäquat belohnt werden kann, was Sie und der ‚Globe‘ für die Opfer, die Kirche und die Gesellschaft getan haben. Die bedeutsame und positive Wirkung wird noch Jahrzehnte anhalten.“

Father Doyles Brief, sagt Marty Baron, habe ihn stets daran erinnert, warum er einst Journalist geworden und seither geblieben sei: „Es gab damals noch keinen Film. Es gab damals noch keine Preise.“ Für ihn habe es lediglich Genugtuung gegeben und die halte heute noch an. Wohl nicht zu Unrecht halten etliche Journalisten den auf den ersten Blick eher unauffälligen, aber hart arbeitenden Mann aus Florida für den besten Chefredakteur Amerikas.

Quellen: „The Washington Post“; „The New York Times“; “The Los Angeles Times”; „The New Yorker“: „Pulitzer’s Gold” (University of Missouri Press, 2007)

Erstveröffentlichung: Journal21.ch vom 1. März 2016

Bildquelle: pixabay.com / wikimedia.org (Montage)

 

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