Ist eine objektive Berichterstattung möglich oder überhaupt erstrebenswert und wird sie auch in Zukunft ein globaler, journalistischer Standard sein? Diese Frage ist so alt wie die Journalismusforschung selbst und wurde schon in etlichen Studien behandelt. Während eine endgültige Antwort weiter aussteht, geben aktuelle Studien nun wieder neue Einsichten. Mit einem länderübergreifenden Langzeitvergleich gehen Frank Esser und Andrea Umbricht der These von einer Homogenisierung journalistischer Kulturen nach und untersuchen dafür die Einhaltung von Kriterien objektiver Berichterstattung. Im Zentrum der Studien von Senja Post und Cornelia Mothes steht die Frage, ob und wie Journalisten Objektivität definieren und wertschätzen und wie sie sich dabei von Akademikern und nicht-professionellen Journalisten unterscheiden.
Ursprünglich ein wissenschaftliches Konzept, setzte sich Objektivität als wichtiges Merkmal für journalistische Qualität zuerst im US-amerikanischen Journalismus durch und diffundierte dann in die europäischen Journalismus-Kulturen. Frank Esser und Andrea Umbricht widerlegen mit ihrer Arbeit allerdings die oft geäußerte These von einer Amerikanisierung des europäischen Journalismus. Sie untersuchten Nachrichtenartikel aus den Jahren 1960/61 und 2006/2007 in je zwei Zeitungen aus den USA, Großbritannien, der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Italien. Eine Homogenisierung der nationalen Journalismus-Kulturen können sie im Rahmen ihrer Analyse nicht feststellen; untersucht wurden. Stattdessen bestätigen ihre Ergebnisse, dass Journalismus in engem Zusammenhang zur Ausprägung nationaler Politik, Gesellschaft und Kultur steht. Objektivität wird in den verschiedenen europäischen Ländern also jeweils vor dem Hintergrund bestehender journalistischer Traditionen und Werte definiert und transformiert. So steigen zum Beispiel britische und italienische Journalisten seltener mit Fakten in ihren Text ein, während Schweizer und Deutsche seltener direkte Zitate nutzen. Zwar stellen die Forscher fest, dass auf Fakten basierender Journalismus in den untersuchten europäischen Medien tatsächlich zugenommen hat. Zugleich aber haben sich die amerikanischen Medien europäisiert, was sich daran zeigt, dass sie Fakten häufiger interpretieren oder kommentieren. Generell tendieren Journalisten in allen sechs untersuchten Ländern häufiger zu einem interpretativen Journalismus, der Fakten mit Hintergrundinformationen verbindet. Aus Sicht der Forscher ist dies ein begrüßenswerter Trend, wenn dabei nicht nur eine Abfolge von Ereignissen dargestellt, sondern die zugrundeliegenden Strategien und Regeln beleuchtet werden. Das allerdings, und hier unterscheiden sich die untersuchten Medien kaum voneinander, ist immer seltener der Fall.
Dass Objektivität nach wie vor ein angestrebter journalistischer Standard ist, belegt Senja Post mit einem aktuellen Vergleich von Definition und Wertschätzung des Begriffs bei deutschen Journalisten und Akademikern. Beide Professionen glauben, dass ihre Arbeit profitiert, wenn sie ihre eigene Voreingenommenheit zu überwinden suchen. Was allerdings unter Objektivität zu verstehen ist, davon haben beide Gruppen gründlich verschiedene Vorstellungen: Journalisten wollen vor allem die Fakten für sich sprechen lassen, die entsprechend in erster Linie richtig und vollständig sein müssen. Akademiker betonen dagegen die Wichtigkeit methodischer Korrektheit und Transparenz des Forschungsprozesses. Kulturjournalisten und -wissenschaftler halten Objektivität durchweg für weniger wichtig als ihre Kollegen aus den Bereichen Soziales, Politik, Wirtschaft und Naturwissenschaften. Dabei ist die Gruppe der Journalisten angesichts der Hektik des täglichen Nachrichtengeschäfts durchweg kritischer in ihrer Einschätzung, ob Objektivität erstrebenswert und überhaupt realisierbar ist. Senja Post plädiert für eine breit angelegte Debatte, um akademische von journalistischer Objektivität abzugrenzen und die Kriterien für objektive Berichterstattung pragmatisch zu definieren.
Die Debatte um die Objektivität ist also längst nicht abgeschlossen. Im Gegenteil könnte sie sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Konkurrenz nicht-professioneller Journalisten als entscheidend für die Zukunft des Journalismus erweisen, glaubt Cornelia Mothes. Gerade die professionelle Verpflichtung auf Objektivität habe höchste Relevanz im Bemühen, sich von journalistischen Amateuren abzugrenzen. Nur wenn Journalisten den professionellen Standard der Objektivität erfüllten, damit Journalismus wieder für Qualität und Glaubwürdigkeit stehe, hätten sie eine Chance weiterhin als gesellschaftlich wichtige Kraft zu wirken.
Literatur:
Frank Esser and Andrea Umbricht: Journalism in the Western Press: Comparing Six News Systems since the 1960s. In: Journalism & Mass Communication Quarterly, 25 March 2014, Vol. 91(2) 229–249, 2014 AEJMC, Sage, DOI: 10.1177/1077699014527459
Cornelia Mothes: Objektivität als professionelles Abgrenzungskriterium im Journalismus. Eine dissonanztheoretische Studie zum Informationsverhalten von Journalisten und Nicht-Journalisten. Nomos, Baden-Baden 2014
Senja Post: Scientific objectivity in journalism? How journalists and academics define objectivity, assess its attainability, and rate its desirability. In: Journalism, 1–20, Aug 11, 2014, Sage, DOI: 10.1177/1464884914541067
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