Das neue Motto des Boulevards: „Edel sei der Blick, hilfreich und gut“?
Heinz Rohn, der Gastwirt des „Muttnerstübli“ im Schweizer Bündnerland, hat ein Problem. Sein Herz verbietet ihm das Hacken von Holz. Das aber braucht er für den Ofen im Saal. Also bat er um Hilfe beim Blick.
Die Schweizer Boulevardzeitung half gern. Sie schickte vier Holzhacker ins Tal, darunter einen Mitarbeiter der Redaktion. Sie erledigten den Job in einem Tag.
Erstaunlich an der Geschichte ist vor allem, wer aus der Redaktion einen Tag lang Zeit fand, die Axt zu schwingen. Es war René Lüchinger, der Chefredaktor des Blatts. Lüchinger, so erging das Signal, ist ein hilfsbereiter Mensch. Und der Blick ist neuerdings ein hilfsbereites Blatt.
Die Chefetage des Blicks versucht wieder einmal eine redaktionelle Volte. Diesmal ist es die Volte der Menschlichkeit. Seit drei Monaten läuft die Aktion „Blick erfüllt Wünsche“. Der Gastwirt bekommt frisches Holz, der Bauersmann eine Reise im Segelflugzeug, die Nachbarin ein neues Gartenhaus.
Rund um die Flüchtlingskrise blieb auf der Redaktion erst recht kein Auge trocken. Höhepunkt war die Idee, ausgewählte Flüchtlinge in den Newsroom zu laden, wo sie das Blatt mitgestalten durften. Titelzeile: „13 Flüchtlinge aus aller Welt: Wir haben diesen Blick gemacht.“
Nun steht der Blick mit seinem neuen Humanismus nicht allein. Mit der Aktion „Wir helfen“ setzte auch die deutsche Bild-Zeitung, so das Selbstlob, „ein Zeichen der Menschlichkeit“. Selbst die Fußballer der Bundesliga nähten sich das Signet aufs Trikot, samt dem Logo des Blatts. Sogar die hartgesottenen britischen Tabloids unterbrachen zuletzt ihre üblichen Asylantenattacken. „Wir müssen den Verzweifelten helfen“ , stand plötzlich als Aufruf in The Sun.
Flüchtlinge als PR-Instrumente sind folgerichtig. Bei keiner anderen Frage können Verkaufszeitungen dermaßen Profilierung und Polarisierung erzeugen wie bei Immigration und Asyl. Die Ausländerfrage ist der Lackmustest des Boulevards.
Die Geschichte des Blicks zum Thema ist entsprechend wechselvoll. Er begann mit der Position der meisten Boulevardzeitungen, einer dosierten Form der Xenophobie. In den achtziger Jahren, unter Chefredaktor Peter Uebersax, waren vor allem die Tamilen im Visier.
Dann rutschte der Blick stetig nach links. Die SVP und ihre restriktive Asylpolitik wurde zum publizistischen Todfeind des Blatts. Den Höhepunkt dieses Kurses erreichte die Zeitung nach 2003 unter Chefredaktor Werner de Schepper, einem Sympathisanten des linken SP-Flügels.
2009 kam die Kehrtwende. Der deutsche Chefredaktor Ralph Grosse-Bley, Bild-erprobt, kehrte zu den Wurzeln des Boulevards zurück. Unter ihm wie auch unter seiner Kurzzeitnachfolgerin Andrea Bleicher bevölkerten nunmehr Scharen straffälliger Ausländer die Schlagzeilen. Messerstecher aus Albanien, Vergewaltiger aus Afrika und Raser aus dem Kosovo wechselten sich auf der Frontseite ab.
Mit Wirtschaftsjournalist René Lüchinger kehrte vor zwei Jahren wieder mehr Nüchternheit zurück. Die zugewanderten Schurken sind von Seite eins verschwunden. Auch der alte Lieblingsgegner ist wieder in Ehren. Zum Foto des ertrunkenen Syrerbuben Aylan Kurdi titelte das Blatt: „Bringt dieses Bild die SVP zur Vernunft?“
Das Einzige, was während des Slaloms konstant blieb, war die sinkende Auflage. Sie sank vom Höchstwert von 390.000 auf unter 160.000. Am Kiosk gehen unter der Woche nur noch 25.000 Exemplare weg.
Ein kleiner Trost war der Blick, der von dreizehn Flüchtlingen gestaltet wurde. Er verkaufte sich am Kiosk zehn Prozent besser als sonst, was ein Plus von 2.500 Stück ist. Das machte 4.000 Franken in der Kasse.
Erstveröffentlichung: Weltwoche vom 1. Oktober 2015
Bildquelle: Franz Ferdinand Photography / Flickr CC
Schlagwörter:Aylan Kurdi, Bild-Zeitung, Blick, Boulevard, Flüchtlinge, René Lüchinger, Schweiz, The Sun