Vor 40 Jahren wurde das HI-Virus erstmals in den USA nachgewiesen. Stigma gegen HIV-positive Menschen gibt es immer noch. Es kann durch die öffentliche Debatte weitergetragen und verstärkt werden, und zwar dann, wenn die Wahrnehmung fehlerhaft, einseitig oder tendenziös ist. Journalistinnen und Journalisten sollten über HIV aufklären, um Stigma und Diskriminierung zu bekämpfen. Das EJO stellt Leitlinien für eine sensible Berichterstattung über HIV-positive Menschen vor.
Eine der wichtigsten Regeln für die Berichterstattung lautet: HIV steht nicht synonym für AIDS. Die Medizin ist im Bereich der HIV-Forschung weit fortgeschritten; „der vorherige enge Zusammenhang von HIV und Aids existiert nicht mehr“, erläutert Sexualwissenschaftler Martin Dannecker. Die Zahl der weltweiten Todesfälle in Zusammenhang mit HIV/AIDS sinkt seit 2005 kontinuierlich, während die Zahl der durch Therapie verhinderten Fälle stetig zunimmt: Global gesehen ist HIV kein Todesurteil mehr.
„Aids ist nicht dasselbe wie HIV“, schreibt die Deutsche Aidshilfe auf ihrer Website. AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) ist die eigentliche Symptomatik einer HIV-Infektion: Eine Immunschwäche, ausgelöst durch die HI-Viren, macht den Körper anfälliger für Krankheitserreger jeglicher Art. Bei dadurch bedingten Erkrankungen spricht man von AIDS.
Die Angst vor HIV
Richard Lemke, Kommunikationswissenschaftler und Beisitzer im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, erklärte dem EJO die Ursprünge der Angst vor HIV. Das Aufkommen des HI-Virus in den 80er Jahren habe die Medizin in eine Art Hilflosigkeit versetzt, die heute noch das Bild von HIV prägt:
Die Risikoangst muss man aus dem kollektiven Trauma der Ohnmacht, das in den 80ern über einen hereingekommen ist, interpretieren. Wir waren an einem Punkt, an dem uns die Naturwissenschaft und die Medizin alles als lösbar darstellten. Es war das Jahrhundert, in dem Antibiotika einen Großteil der früheren Infektionskrankheiten relativ gut beherrschbar machten. Es war ein Zeitalter der nahezu absoluten menschlichen Macht.
Laut Lemke geht es in der allgemeinen Debatte um HIV fälschlicherweise oft um eine „Schuldfrage“, die unweigerlich eine Dichotomie von Gut und Böse herbeiführe: „In der Berichterstattung lässt sich häufig ein Schlüsselmoment identifizieren, in dem von diesem ‚einen Fehler‘ gesprochen wird, ohne den sie oder er sich nie infiziert hätte. Dadurch geschieht eine Einteilung in gute und schlechte HIV-Positive. Wer durch eine kontaminierte Blutspende HIV-positiv geworden ist – sozusagen unverschuldet –, der ist der gute HIV-Positive. Wenn sich jemand beim Sex infiziert hat, wird gesagt: Man hätte es doch besser wissen müssen.“
Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe (DAH), bestätigt im EJO-Interview diese Beobachtung:
Manchmal haben Journalist*innen die Absicht, Prävention zu betreiben, also aufzuklären und zum ‚richtigen‘ Verhalten zu bewegen. Unterschwellig lautet die Botschaft dann oft: ‚Sei nicht dumm, schütz dich‘. Dahinter steckt zwar meist eine gute Absicht, aber faktisch entsteht dadurch ein enormer normativer Druck. Und es liegt den Schluss nahe: Wer sich infiziert hat, war dumm und verantwortungslos. Das trägt zur Stigmatisierung bei.
Holger Wicht fordert Medienschaffende dazu auf, ein zeitgemäßes Bild von HIV wiederzugeben:
Es gibt immer noch Journalist*innen, die glauben, sie müssten Schreckensbilder aufrechterhalten, weil das gut für die Prävention sei. Aber: Eine gute Nachricht sollte auch verbreitet werden! Bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung können Menschen heute gut mit HIV leben. Das darf man sagen und das soll man auch zeigen.
Stigma: „Gift für die HIV-Prävention“
Die Berichterstattung über HIV soll also konstruktiv und lösungsorientiert sein. Für Journalistinnen und Journalisten bedeutet das auch, Diskriminierung und Stigma aktiv entgegenzuwirken. Als bedeutender Baustein in der Realitätswahrnehmung der Menschen haben Medien auch den Auftrag, Menschen angemessen über HIV aufzuklären.
Lange Zeit geschah das nicht. In Industrienationen wie Deutschland oder den Vereinigten Staaten wurde AIDS als „Schwulenkrankheit“ (GRID, gay-related immune deficiency) bezeichnet. Auch der Spiegel schrieb 1983 von der „Homosexuellen-Seuche“. „Sind dann auch Heterosexuelle, Frauen und Kinder tödlich gefährdet?“, fragte man damals.
Laut Elke Lehmann, die 2003 zum Thema „HIV/AIDS und die Rolle der Medien“ promovierte, berichteten auch andere Zeitungen nach diesem Schema, zum Beispiel die britische Times:
„Wem kann man die Hand schütteln, wen kann man küssen, lieben, mit wem den Toilettensitz teilen, mit wem gemeinsam einen Kaffee trinken? […] Was kann man berühren, essen, trinken? Ist ein Designer homosexuell, tragen seine Kleidungsstücke möglicherweise dann das Virus? Kann ein schwuler Friseur Kunden bedienen? […] Wie sicher sind die Duschen nach dem Squash?“ (The Times vom 12.08.1985, zitiert nach Lehmann, 2003).
oder der britische Guardian:
„AIDS killt Blutspender“ (The Guardian vom 2302.1985, zitiert nach Lehmann, 2003).
Stigma gegenüber HIV-positiven Menschen gibt es auch heute noch. Es spiegelt sich vor allem in den Debatten der politischen Rechten wider, in Deutschland (siehe z.B. ein Bericht der Süddeutschen Zeitung über den Umgang der AfD mit HIV, den Fall Andreas Winhart, oder ein Artikel der DAH), aber auch weltweit, zum Beispiel in Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro in HIV-positiven Menschen nur einen zusätzlichen „Kostenfaktor“ für den Staat sieht und sich öffentlich gegen sexuelle Vielfalt und Aufklärung ausspricht („Ich hätte lieber einen toten Sohn als einen homosexuellen Sohn“).
„Diese Verschärfung des Klimas gegen Minderheiten ist Gift für die Menschen selbst, weil sie sie oft ihr Selbstbewusstsein, ihre psychische Gesundheit und damit letztlich auch in ihre körperliche Gesundheit beschädigt, und sie ist auch Gift für die HIV-Prävention, weil die Grundlage für gelungene HIV-Prävention immer Akzeptanz ist“, erklärt DAH-Sprecher Holger Wicht. Als Beispiele führt er vor allem hasserfüllte Kommentare rechter Gruppen in den sozialen Medien an.
Laut ihm gibt es sogar einen direkten Zusammenhang zwischen Diskriminierung und Gesundheit:
Nur wenige Menschen wissen, dass das HIV-Risiko auch von Diskriminierungserfahrungen beeinflusst wird. Wenn Menschen Diskriminierung erlebt haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mit HIV infizieren. Sie entwickeln häufiger psychische Erkrankungen und Suchterkrankungen, haben möglicherweise ein schwächeres Selbstwertgefühl und können sich damit in bestimmten Situationen—zum Beispiel mit ihrem Wunsch, ein Kondom zu benutzen—nicht durchsetzen.
Eine sensible, aktiv gegen Diskriminierung gerichtete Berichterstattung bekommt dadurch eine noch viel größere Bedeutung. Werden Menschen über die Medien für das Thema HIV sensibilisiert, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie HIV-positive Menschen stigmatisieren. Medien sollen hier als Mittler verstanden werden – zwischen denen, die informieren wollen, denen, über die informiert wird, und denen, die informiert werden müssen. Diesen Ansatz der öffentlichen Aufklärung verfolgen auch die Deutsche Aidshilfe und andere lokale, nationale und internationale Hilfsorganisationen.
Noch immer zu wenig Aufklärung
Häufig geht Stigma mit Unwissenheit einher: „HIV wird ständig – zumindest unterschwellig – mit bestimmten Lebensweisen in Verbindung gebracht und diese werden im selben Moment abgewertet. Motto: Wer HIV hat, hat etwas falsch gemacht“, erklärt Wicht. Eine Umfrage der DAH im Frühjahr 2020 habe ergeben, dass beispielsweise nur 18 Prozent der Befragten wussten, dass HIV bei erfolgreicher Therapie überhaupt nicht mehr ansteckend ist.
Richard Lemke sagt dazu: „Diese Selbstverständlichkeit der Nicht-Infektiosität unter Therapie ist in weiten Teilen der Gesellschaft noch nicht angekommen. Da ist und bleibt HIV das, was es vor zwanzig Jahren war. Es verfallen viele Diskussionen in unfassbar alte Muster.“
Aus diesem Grund blickt der Kommunikationswissenschaftler auch skeptisch auf die mediale Aufarbeitung von HIV—mehr wegen der Rezipienten als wegen der Journalisten: „Manchmal muss man sich nur mal die Kommentare unter den Beiträgen angucken. Dahinter steht eine ganz klassische Homophobie. Psychodynamisch gesehen ist das Hass.“
Leitlinien für eine sensible Berichterstattung
In der Berichterstattung kommt es neben den korrekten Definitionen vor allem auch auf den Umgang mit infizierten und erkrankten Personen an. Die Corona-Pandemie hat erneut bewiesen, welch große Bedeutung Daten und Fakten, aber auch Mitgefühl in der Berichterstattung über Viren und Viruserkrankungen haben.
Der vorliegende Artikel soll einen Beitrag dazu leisten, dass für die Berichterstattung über HIV und AIDS Maßstäbe gesetzt werden, die es ermöglichen, einer Verstärkung des Stigmas und damit einer Erschwerung der Präventionsarbeit vorbeugen. Dazu hat der Autor bereits bestehende Leitfäden zur HIV-Berichterstattung analysiert und aus ihnen eine Liste von Leitlinien für Journalistinnen und Journalisten zusammengetragen.
1. HIV und AIDS sind keine Synonyme. AIDS sollte nur genannt werden, wenn man sich auch auf die Symptomatik bezieht (dann z.B. „HIV/AIDS“).
HIV ist ein “Virus, welches das körpereigene Immunsystem befällt und die betroffene Person dadurch anfälliger für Infektionen und Erkrankungen macht. […] Erfolgt keine Therapie, kann HIV die Krankheit AIDS auslösen” (Quelle: US Department of Health & Human Services).
“AIDS ist die letzte Phase einer HIV-Infektion. Sie tritt auf, wenn das Virus das körpereigene Immunsystem stark geschwächt hat” (Quelle: US Department of Health & Human Services).
2. Die Gefühle und die Privatsphäre HIV-positiver Menschen müssen respektiert werden. Journalistinnen und Journalisten sollten denen eine Stimme geben, die gehört werden wollen.
Nicht alle Menschen wollen in der Öffentlichkeit stehen. Die, die bereit sind, über ihre HIV-Infektion zu sprechen, haben immer das Recht darauf, dass bestimmte, beispielsweise sehr intime Dinge nicht thematisiert werden.
3. Wer mit Daten arbeitet, muss sie verstehen und kontrollieren. Die folgenden Quellen können dabei hilfreich sein:
- Avert (britische HIV-Organisation)
- UNAIDS (Gemeinsames Programm der UN für HIV/Aids)
- WHO (Weltgesundheitsorganisation)
- The Global Fund (Internationaler Finanzierungsfonds zu Bekämpfung von Infektionskrankheiten)
- Our World in Data
- European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC)
- Lokale/nationale Organisationen und Einrichtungen wie die Deutsche Aidshilfe e.V. oder das Robert Koch-Institut (RKI).
4. Berichte sollten konstruktiv sein, nicht reißerisch.
Sie sollten auf gesellschaftliche und individuelle Fortschritte aufmerksam machen. Journalistinnen und Journalisten dürfen keinen normativen Druck aufbauen, indem Sie Menschen zu ‚richtigem‘ Handeln in Bezug auf HIV auffordern. Prävention funktioniert nicht über Druck.
5. Menschen aus der Community müssen eine Stimme bekommen.
„Nothing about us without us“, sagt man in der Community, was so viel heißt wie: Wer über uns spricht, muss auch mit uns sprechen. Die wahren Expertinnen und Experten für HIV sind die Menschen, die mit dem Virus leben. Mögliche Protagonistinnen und Protagonisten werden u.a. von der Deutschen Aidshilfe vermittelt.
6. Stigma muss vermieden werden. HIV-positive Menschen dürfen nicht als ‚Opfer‘ oder ‚Betroffene‘ dargestellt werden.
Eine HIV-positive Person ist kein ‚Opfer des Virus‘. Sie ist eine Person, die mit HIV lebt.
7. Metaphern (z.B. „Killervirus“ oder „Angriff“) sollten vermieden werden.
Es ist wichtig, sachlich zu berichten und Formulierungen zu vermeiden, die Angst auslösen und das Risiko falsch darstellen.
8. Der soziale, politische und historische Kontext muss beachtet werden. Gleichzeitig sollten HIV-positive Menschen nicht kategorisiert werden.
Das Risiko, sich mit HIV zu infizieren, hängt mit dem sozioökonomischen Status zusammen (siehe APA). Dennoch ist es wichtig, die Verteilung des Virus nicht zu verallgemeinern oder daraus Cluster abzuleiten. Das verstärkt ggf. das Stigma gegen bestimmte soziale Gruppen.
9. Berichte sollten auch Bezug auf andere STDs (sexuell übertragbare Erkrankungen) und auf Safer Sex nehmen.
HIV ist nicht das einzige Virus, das sich stark auf den Alltag und das Sexualleben auswirken kann. Journalistinnen und Journalisten sollten ggf. versuchen, einen Bogen zum Thema STDs und geschützter Sex zu schlagen.
10. Journalistinnen und Journalisten sollten Weiterbildungsangebote für Medienschaffende, die über HIV/AIDS berichten, nutzen.
Dazu kann man sich bei lokalen HIV-Organisationen oder Journalistenverbänden informieren.
11. Die Sprache muss angemessen sein. Daher sollten die folgenden Formulierungen vermieden werden, weil diese entweder falsch, irreführend oder diffamierend sind.
Formulierung | Grund | Alternative |
Normal | Suggeriert, dass HIV-positive Menschen nicht ‚normal‘ sind. | Menschen, deren HIV-Status negativ ist |
Opfer | “Wir sind erst dann Opfer, wenn wir tot sind” (Journalistin Charlene Smith im WHO-Leitfaden) | (Dramatische Formulierungen immer vermeiden); Menschen mit HIV, Menschen, die an AIDS erkrankt sind o.ä. |
Prostituierte | Negative Konnotation | Sexarbeiter |
Homosexuelle | Nicht alle Männer, die Sex mit Männern haben, sind homosexuell. Außerdem fallen unter den Begriff „homosexuell“ auch lesbische Frauen. | Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) |
Promiskuitiv / polygam | Negative Konnotation | Mehr als eine Partnerin / einen Partner |
Kampf, Krieg, Gefecht, Kontrolle, Überwachung | Militärische Begriffe, die Vorurteile prägen | “Vokabular des Friedens und des menschlichen Fortschritts” (zitiert nach dem Handbuch der NAA Cambodia), z.B. „Leben mit HIV“ statt „Kampf gegen HIV“ |
Alle Formulierungen, die mit Schuld verknüpft sind | “generell inakzeptabel” (NAA Cambodia u.a.) | |
Risikogruppe | Begriff verschleiert individuelle Faktoren (z.B. sexuell, sozial) | Menschen, die … angehören, haben ein erhöhtes Infektionsrisiko, weil … (z.B. sozioökonomische Faktoren, Lebensbedingungen etc.) |
Betroffene | Bemitleidender Begriff | Menschen, die mit HIV leben |
HIV-Infizierte | Substantivierung spricht Menschen Identität abseits von HIV ab | s.o. |
HIV weitergeben | Suggeriert ein freiwilliges und/oder intendiertes Handeln | Jemanden mit HIV infizieren |
Es gibt eine Vielzahl von Begriffen und Formulierungen die im Kontext von HIV/AIDS vermieden werden sollten. Eine Vollständigkeit beanspruchende Übersicht wäre an dieser Stelle zu umfänglich, daher sind im Folgenden die Leitfäden aufgeführt, die die obenstehende Tabelle ausführlich ergänzen.
- Leitfaden der Weltgesundheitsorganisation, S. 65
- Leitfaden der Internationalen Journalisten-Förderation, S. 13
- Leitfaden der Friedich-Ebert-Stiftung, S. 14
- Leitfaden der Gay & Lesbian Alliance Against Defamation, S. 8
Dieser Text ist aus dem Kurs „Media and Democracy“ am Institut für Journalistik der TU Dortmund heraus entstanden. Konzipiert wurde das Seminar von Prof. Fernando Oliveira Paulino und Prof. Dr. Susanne Fengler im Rahmen des Projekts „Kommunikation und Demokratie: Medienverantwortung, öffentlich-rechtliche Medien, Internetzugang und das Recht auf Information in Deutschland und Brasilien“, unterstützt durch PROBRAL, das brasilianisch-deutsche akademische Kooperationsprogramm der Organisationen CAPES und DAAD.
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Schlagwörter:AIDS, Deutsche Aidshilfe, HIV, HIV-Berichterstattung, HIV-Prävention, Medien, Stigma