Wenn du ein Telefon in die Hand nimmst, bist du im heutigen Journalismus ein Held der Enthüllung.
Die Zuschauerzahlen von Roger Schawinski. “Sonntagsblick-Recherchen zeigen: Die Quoten seiner Talks sind eher mager.” Ein Hundebiss an einer Rentnerin. “Recherchen von 20 Minuten haben ergeben, dass der Rottweiler einer Bauernfamilie gehört.” Die Ehe-Steuer der CVP. “Recherchen des Tages-Anzeigers zeigen, dass die CVP-Spitze in Olten über die Initiative gesprochen hat.” Die Sparbemühungen der Post. “Wie Rundschau-Recherchen zeigen, will die Post die heute grosszügigen Dienstaltersgeschenke kürzen.” Ein kaputter Brunnen in Biel. “Wie Bieler-Tagblatt-Recherchen ergeben haben, wurden die Steinreste längst entsorgt.”
Recherchen, Recherchen, Recherchen. Wir leben in Zeiten des harten, investigativen Journalismus. Erbarmungslos kommt die Wahrheit ans Licht. Den fünf Eingangszitaten aus letzter Zeit könnten wir Hunderte von ebenso überdrehten Höchstleistungen des Recherchierjournalismus anfügen.
Recherche ist in den Medien die Obsession der Gegenwart. Sie ist zum Gütezeichen des Journalismus geworden, bis hin zum absurden Selbstlob, wonach sich rund um alltägliche TV-Talks, Hundebisse und kaputte Brunnensockel – “wie unsere Recherchen ergaben” – eine Art Watergate-Stimmung breitgemacht habe.
Die Obsession mit der Recherche hat zwei Gründe. Zum einen spiegeln sich darin die veränderten Arbeits-bedingungen der Branche wider, zum anderen die wachsende Konkurrenz durch die neuen Medien.
Journalisten haben heute kaum noch Zeit. Redaktionen von Regionalblättern etwa stehen unter stetem Verwertungsdruck. Oft basieren ihre Artikel ausschliesslich auf Datenbanken und auf Informationen, die im Internet abzugreifen sind. Wenn sie einmal echte Aussenkontakte haben, ist das so sensationell, dass sie gleich anmerken müssen: “wie Recherchen zeigen”.
Echte Recherche ist definiert als detektivisches Zusammentragen vielfältigster Informationen. Unsere fünf Eingangsbeispiele haben damit nichts zu tun. Eine Mail an den TV-Pressedienst, ein Telefonat mit dem Polizeisprecher, ein Talk mit dem CVP-Parteisekretär, ein Anruf beim Gewerkschafter und ein Kontakt mit dem Denkmalamt – und schon sind fünf weltbewegende Recherchen abgewickelt. Früher sagte ein Redakteur: “Ich musste noch kurz telefonieren.” Heute sagt er: “Wie meine umfassenden Recherchen zeigen.”
Im Internetzeitalter ist den Zeitungen wie der TV-Information ihre frühere Legitimation abhandengekommen. Mit Berichterstattung allein, und mag sie noch so gut sein, können sie heute nicht mehr punkten. Das schaffen die Online-Medien nicht viel schlechter, und vor allem viel schneller.
Also mussten die alten Redaktionen ein neues Differenzierungsmerkmal finden. Sie fanden es in der Eigenleistung. Eigene Recherchen, eigene Enthüllungen und eigene Aufdeckungen wurden zum neuen Markenzeichen, mit dem man sich gegen die schnelle Internetkonkurrenz abgrenzen konnte.
Selbstlob stinkt darum nicht mehr. “Wie Recherchen zeigen” und “Wie Recherchen ergaben” können wir darum fast täglich auch in Titeln aus seriösen Häusern wie Tamedia und NZZ lesen. Noch extremer treiben es die TV-Formate “Kassensturz” und “Rundschau”. Kaum eine Sendung wird hier noch ausgestrahlt, ohne dass selbstgefällig auf eigene “Recherchen” verwiesen wird. TV SRF versteht sich in schon fast bizarrer Weise als staatlich finanzierte Enthüllungsmaschine.
Neunzig Prozent all der Recherchen in Presse und TV sind keine Recherchen. Sie sind billige Prahlerei. Etikettenschwindel ist die neue Branchenkultur.
Erstveröffentlichung: Die Weltwoche vom 28. Mai 2015, S. 21
Bildquelle: ona Anglada Pujol/flickr.com
Schlagwörter:Brnachenkultur, Enthüllung, Etikettenschwindel, investigative Recherche, Recherche, Selbstlob