Ein Großteil des Publikums hat das Gefühl, in einer anderen Welt zu leben als jener, die Medien ihnen zeigen. Dieser Forschungsbefund muss aufwecken – die Zeiten sind günstig.
Auf der technischen Ebene experimentieren viele Redaktionen mit 360-Grad-Darstellungen, um andere Sichtweisen zu eröffnen; doch darüberhinaus müssen sie wieder stärker beachten, dass der Rundumblick im Journalismus auch eine Frage der Haltung ist.
Die Zahlen einer Mainzer Langzeitstudie sind eindeutig: Sieben von zehn Personen finden, dass die gesellschaftlichen Zustände völlig oder teilweise anders sind als in den Medien dargestellt, bei den unter Dreißigjährigen ist dieses Gefühl noch ausgeprägter. Viele vermissen in den Medien die Meinungen, die ihren eigenen entsprechen, und häufig auch die Themen, die ihnen wichtig sind; jeder Zweite antwortete, Medien hätten zumindest teilweise den Kontakt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit verloren.
Diese Entfremdung lässt sich nicht rechtfertigen, aber erklären – viele Journalisten stammen aus etwa der gleichen, akademisch geprägten Gruppe der Bevölkerung; etliche orientieren sich an den Mächtigen und Einflussreichen, über die sie berichten, manche freunden sich gar mit diesen an. Journalisten müssen indes aus vielfältigen Blickwinkeln heraus gesellschaftliche Veränderungen betrachten und ansprechen, sich bewusst auch in andere Gegenden und Milieus begeben als in die, die sie kennen. Die Studienbefunde bedienen letztlich klassische Journalismus-Qualitäten: offen sein für andere Ansichten, in neue Themen eintauchen, medial den Sorgen von Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten eine Stimme geben und diesen selbst. Und sie weisen auf große Wissenslücken hin: Vielen Befragten ist nicht klar, wie Medien funktionieren, was Journalismus ausmacht, warum und wofür man ihn braucht.
Noch weitere Befunde sollten die Selbstkritik und den Ehrgeiz von Journalisten anstacheln: Ausgerechnet und offenbar erst recht in Zeiten, in denen Manipulation, Desinformation und vieles mehr die Menschen verunsichern, ist das Publikum aufgeweckter als Journalisten vermuten und schätzt Hintergrund sowie Analyse. Das Vertrauen in klassische Medien stabilisiert sich, Facebook verliert an Zuspruch als Nachrichtenkanal.
Erstveröffentlichung: tagesspiegel.de vom 24. Juni 2018
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Schlagwörter:Entfremdung, Facebook, Mediennutzung, Medienvertrauen