Comic-Reportagen und “Expat”-Grafikromane

26. Januar 2023 • Aktuelle Beiträge, Redaktion & Ökonomie, Ressorts • von

Die Comic-Reportage hat sich in der Schnittstelle von journalistischer Praxis und Comic-Zeichnung entwickelt. Sie wurde einerseits von der jahrhundertealten Tradition der Zeitungsillustration beeinflusst, aber auch von der neueren autobiografischen „Graphic Novel“ geprägt. Das Genre wurde sowohl durch die nordamerikanischen Comics als auch durch die frankophonen „bande dessinée“ populär. Dieser Artikel beschreibt das (trans)mediale Genre der Comic-Reportage und setzt sich mit den Grenzen des Phänomens auseinander.

Zwei Trends im Grafikjournalismus 

In den letzten Jahren konnten zwei große Tendenzen im Grafik- oder Comic-Journalismus beobachtet werden, die sich auf den ersten Blick stark voneinander unterscheiden. Einerseits hat das Aufblühen des Datenjournalismus dazu geführt, dass vermehrt mit Datenvisualisierungen wie Infografiken, Zahlen oder Karten gearbeitet wird. Zahlen und Infografiken wird üblicherweise ein objektivierender Effekt zugeschrieben. Das heißt, dass Zahlen eher als objektive Fakten wahrgenommen werden. Dem gegenüber kann eine subjektivierende Tendenz beobachtet werden. Einerseits durch die stete “Neuerfindung” der eher subjektiven journalistischen Zeichnung, die als Meinungsgenre wahrgenommen wird. Andererseits durch die Comic-Reportage, die durch ihre Subjektivität und ihre Nähe zum Dargestellten zunehmend an Beliebtheit gewinnt.

Diese beiden Arten des grafischen Journalismus und ihre Verwendung weisen jedoch Ähnlichkeiten auf. Sie verlangen sowohl von dem oder der Schöpfer:in als auch von den Rezipient:innen Zeit – und sie regen die Leserschaft zum Verweilen an, auch aufgrund der von der Routine des linearen Lesens losgelösten Erwartungshaltung, ihrer Tabularität und der in den Raum der Seite gestellten visuellen Darstellung. Der Comic-Journalismus, die explizit subjektive Comic-Reportage und der Datenjournalismus, der die Objektivität durch Datenvisualisierung und Infografiken neu erfindet, sind ebenfalls Varianten des grafischen Journalismus und des investigativen Journalismus. Anstelle der unverdaulichen, ständig rollenden und sich vervielfältigenden Bilder von Nachrichten und Aktualitäten bieten sie die Möglichkeit einer langsameren und tieferen Rezeption – was möglicherweise dem Trend des Slow Journalism entspricht.

Journalistische Praxis und Comic-Zeichnung

Die Comic-Reportage ist ebenfalls von der jahrhundertealten Tradition der Zeitungsillustration geprägt, spiegelt aber vor allem auch die generischen Merkmale der autobiografischen Graphic Novel wider. Sie entwickelte sich an der Schnittstelle von journalistischer Praxis und Comic-Zeichnung.  Das Genre wurde seit der Jahrtausendwende sowohl in der nordamerikanischen Comicszene als auch in der französisch-belgischen(-schweizerischen) Tradition der Bande Dessinée populär. Joe Saccos einflussreiche Kriegsreportagen aus dem Nahen Osten und den Balkankriegen haben bestimmte Merkmale des Genres kanonisiert.

Saccos Werke behalten zwar einige der Authentifizierungsverfahren der konventionellen Berichterstattung bei – so etwa die Bezüge zu realem Raum und Zeit – brechen aber auf spektakuläre Weise mit dem Gebot der journalistischen Objektivität. Die Figur der Autor:in-Erzähler:in-Protagonist:in ist daher in gewisser Weise eine autobiografische Reporter:in, die sich selbst in die Erzählung einbringt und zu einer Figur und zu einem Teil des Geschehens wird. Sie reflektiert die Eindrücke, Erfahrungen und Gefühle, denen sie während der Feldarbeit begegnet ist, sowie die eigenen kulturellen Hintergründe und die biografische Geschichte. Letzteres verbindet die Comic-Reportage auch mit autobiografischen Werken. Man beobachtet, stellt dar und kommentiert manchmal alltägliche Begebenheiten, und auch die Gespräche mit den Menschen vor Ort werden “inszeniert”. Die Erstellung von Comic-Reportagen setzt sowohl journalistische als auch karikaturistische Fähigkeiten voraus.

Comic-Reportage als transmediales Genre

Das Werk von Patrick Chappatte zeigt anhand seiner beruflichen Identifikation deutlich die Entstehung des Genres der Comic-Reportage in verschiedenen Medienumgebungen. Patrick Chappatte hat über dreißig Comic-Reportagen verfasst. Sie wurden in seinem 2011 erschienenen Buch und in verschiedenen schweizerischen, italienischen, französischen und amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht. Die Reportagen decken eine breite Palette von Themen und Orten ab, von der “Blechstadt” in Nairobi über den französischen Präsidentenpalast bis hin zur Welt der Drogenkartelle in Guatemala  und dem Alltag der Mensch, die Nahe an den Minenfeldern im Südlibanon leben.

Patrick Chappatte spricht bei TEDSummit 2019, Edinburgh, Schottland. Foto: Bret Hartman / TED

Die zweisprachige Website bietet Webadaptionen seiner in der Schweizer Zeitung Le Temps veröffentlichten Werke sowie die Fernsehfassung seiner Südlibanon-Reportage. Die sehr optimistischen, hoffnungsvollen und engagierten TED-Vorträge des Cartoonisten im Stil von Stand-up-Shows – ebenfalls auf Französisch und Englisch – geben einen Überblick über die allgemeinen Merkmale der Comic-Reportage und die Möglichkeiten, die sich aus ihrer medialen Verbreitung ergeben.

Die Nonfiction Graphic Novel Le Photographe, ein Werk von Emmanuel Guibert, Didier Lefèvre und Frédéric Lemercie, stellt Fotografien und das Material des Fotojournalismus in den Vordergrund und verbindet Fotografie und Comics im Zusammenhang mit dem Thema Afghanistan, wobei die Arbeit des Fotojournalisten durch gezeichnete Comicelemente eingerahmt wird. Gleichzeitig repräsentiert Le Photographe aber auch eine Richtung des Comic-Journalismus, die sich von der autobiografischen Tradition löst. Gerade die Vielfalt der Fähigkeiten der Journalist:innen, der Zeichner:innen, der Fotograf:innen, manchmal auch der Tintenkünstler:innen usw., die alle für die Schaffung von Comic-Journalismus notwendig sind, könnte einen idealen Rahmen für die gemeinsame Arbeit bilden.

“Expat”-Grafikromane

Ein neu entstehendes Genre, das ähnlich wie die Comic-Reportage die Erfahrungen von Ländern, Sprachen und Kulturen schildert, die weit von der Heimat des Reporters entfernt sind, könnte als “Expat Graphic Novel” bezeichnet werden. Das Genre geht im Wesentlichen auf das Werk von Guy Delisle zurück. Der Erzähler dieses Grafikromans wechselt von seinem eigenen Land in ein sprachlich und kulturell fremdes Umfeld. Eine solche Situation entsteht in Delisles Romanen, die erstmals im Jahr 2000 veröffentlicht wurden, entweder oder sowohl durch die Arbeit des Protagonisten als Animationsfilmer als auch durch die Einsätze seiner Ehefrau Nadège, die für die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen tätig ist. Die erste Gruppe umfasst Romane, in denen nordkoreanische und chinesische Erfahrungen beschrieben werden, und die zweite Gruppe umfasst “Expat-Erfahrungen” in Myanmar und Israel/Palästina, in denen das Alltagsleben und die Beziehungen zu der lokalen Bevölkerung und anderen „Expats“ dargestellt werden. In Delisles Grafikromanen erscheinen bekannte Themen des internationalen Journalismus, wie die nordkoreanische Propaganda und die israelische Mauer im Westjordanland, in der subjektiven Perspektive des Comic-Erzählers, der in der Regel auf der Ebene der alltäglichen Lebenspraxis dargestellt wird. Der Roman, der in Jerusalem spielt, enthält auch einen Comic-Reportage-Teil, aber sein erzählerischer Rahmen deutet auf eine Abweichung vom Genre hin und betont noch mehr, dass wir außerhalb dieses Experiments keine Comic-Reportage lesen und es daher nicht empfehlenswert ist, sich dieser Grafikromane mit den Erwartungen an den allgemeinen Journalismus und an Comic-Reportagen zu nähern.

Anders als Joe Sacco ist der Pionier des Comic-Journalismus, Guy Delisle, kein ausgebildeter Journalist. Wie die Reiseliteratur-Expertin Jelena Bulić in ihrer gründlichen Analyse der Romane von Delisle feststellt, handelt es sich bei diesen Werken nicht um journalistische Berichte (“Reportagen”) im Sinne von Joe Sacco. Es handelt sich vielmehr um Erzählungen (“Reportagen”), die die kanonischen Konventionen der Reiseliteratur und der reisebezogenen Medienerzählungen umgehen und versuchen, die Erfahrung des Alltagslebens zu vermitteln. Auch der Alltag wird ausführlich thematisiert, wenn es um Themen wie Arbeit, Kochen oder Kinderbetreuung geht – eine Art der Thematisierung, die in autobiografischen Comics und Autobiografien nicht unüblich ist.

Dieser Text entstand im Rahmen des EU-geförderten Projekts „NEWSREEL2 – New Teaching Fields for the Next Generation of Journalists“. Unter Federführung des Erich-Brost-Instituts führte das Netzwerk von Wissenschaftler:innen aus Deutschland, Portugal, Rumänien, Tschechien und Ungarn unter anderem Forschungen zu Innovationen im Journalismus, Storytelling in sozialen Medien, grafischem Journalismus, Fact-Checking, Desinformation, dem Einsatz von künstlicher Intelligenz und Sprachassistenten im Journalismus, sowie der Rolle der Medien in der zeitgenössischen digitalen Demokratie durch. Darauf basierend entwickelt das Forscher:innenteam E-Learning-Materialien zu den verschiedenen journalistischen Feldern.

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Bildquelle: Pixabay

 

 

 

 

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