Journalismus in der Zwickmühle

1. Februar 2022 • Ausbildung, Digitales, Internationales, Qualität & Ethik, Top • von

NEWSREEL2 ist eine internationale Forschungskollaboration, die Journalismus-Studenten auf aktuelle Herausforderungen und Trends im Medienbereich vorbereiten will. In seinem neuen Forschungsbericht macht das Team konkrete Vorschläge für eine zeitgemäße journalistische Ausbildung – mit einem besonderen Augenmerk auf dem Thema Medien und Demokratie.

„Rezipienten glauben, dass sie keine Journalisten mehr brauchen, weil sie in den sozialen Medien selbst direkte Einblicke in die Machtzentren haben. Doch niemand versteht, dass wir dort nur das sehen, was die Mächtigen uns sehen lassen“, sagt Ioana Avădani, Direktorin des Zentrums für unabhängigen Journalismus in Rumänien. Ihr Statement fasst die Herausforderungen zusammen, mit denen Journalisten derzeit in vielen europäischen Ländern konfrontiert sind.

Einerseits ist der Journalismus an einem Punkt angelangt, an dem von ihm verlangt wird, traditionelle normative Ideale zu erfüllen: unabhängig und pluralistisch zu sein, ein Forum für den Meinungsaustausch zwischen Staat und Bürgern zu bieten, die Menschenrechte zu verteidigen, Politiker zur Rechenschaft zu ziehen und die Menschen zu ermutigen, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen. Auf der anderen Seite werden diese Ideale direkt in Frage gestellt. Mit der Abwanderung des Publikums hin zu digitalen Angeboten und der Fragmentierung der Medien hat das Publikum inzwischen die Möglichkeit, Inhalte zu konsumieren, die seinen individuellen Überzeugungen und Interessen entsprechen, und umgekehrt Inhalte zu meiden, die diesen widersprechen, was wiederum die politische und mediale Polarisierung verstärkt.

Im Rahmen des internationalen Projekts NEWSREEL2, das darauf abzielt, E-Learning-Materialien für Journalismus-Studenten zu aktuellen Medientrends zu entwickeln, haben wir uns entschlossen, die aktuellen Herausforderungen, denen Journalisten derzeit gegenüberstehen, und die Auswirkungen auf ihre Arbeit zu erfassen. Dafür befragten wir fünf Medienschaffende, die hauptsächlich im investigativen Journalismus in fünf europäischen Ländern – Portugal, Rumänien, Tschechien, Ungarn und Deutschland – tätig sind. Als Methode zur Datenerhebung entschieden wir uns für Experten-Interviews: Diese wurden in englischer Sprache über eine Videokonferenzplattform geführt und dauerten im Durchschnitt 60 Minuten. Ziel war es, herauszufinden, welche Kenntnisse und Fähigkeiten Journalisten während der universitären Ausbildung lernen müssen, wenn sie im aktuellen Medienumfeld erfolgreich sein wollen.

Die Befragten verstehen die Medien als einen wichtigen Teil der Demokratie. Wie die tschechische Investigativreporterin Pavla Holcová betont, „ist alles, was nicht kritisch ist, PR.“ Und weiter: „Ich denke, all diese Klischees über Journalisten als Watchdogs sind wahr.“ Dennoch gibt es Meinungen, nach denen Medienschaffende nicht direkt in den gesellschaftlichen Wandel eingreifen sollten, und wenn doch, dann nur auf eine bestimmte Art: „Journalisten sollten alle Gesetze des Landes befolgen, und wenn sie diese nicht mögen, sollten sie sie nicht brechen, sondern versuchen, sie zu ändern“, sagt etwa Avădani.

Medien und Macht

Die größte Herausforderung für die Beziehungen zwischen Bürgern einer Demokratie sind Machtverhältnisse zwischen Akteuren – Journalisten, Unternehmern, Werbekunden und Politikern. Wie unsere Interviewpartner betonen, ist die verstärkte Orientierung der  Medien in Richtung Gemeinnützigkeit eine Folge des Kampfes um journalistische Unabhängigkeit gegenüber monopolistischen Tendenzen europäischer Medienmärkte. Gleichzeitig können Medien als NGOs ein Weg hin zu mehr Nachhaltigkeit gegenüber des traditionellen Geschäftsmodells der Nachrichtenmedien sein. Diese Medien-Organisationen verfügen in der Regel über andere Finanzierungsquellen als Werbung, z. B. Spenden, Mitgliederprogramme oder Kooperationen mit anderen Medien.

Doch der wirtschaftliche Druck, der mit einem solchen Geschäftsmodell einhergeht, wirkt sich negativ auf die Budgets der Redaktionen aus, was wiederum zu Personalmangel führen kann. Hinzu kommt, dass Medienunternehmen oft gezwungen sind, kleinere Redaktionen vor Ort abzubauen, insbesondere die Lokalmedien: „Die finanzielle Situation ist eine Herausforderung für den Lokaljournalismus. Viele Redaktionen mussten fusionieren, sie sind nicht mehr lokal, sondern zentralisiert. Auf der anderen Seite kenne ich viele Leute, die von der örtlichen Gemeinschaft finanzierte Lokalredaktionen gegründet haben“, sagt Jonathan Sachse, Geschäftsführer von Correctiv.Lokal in Deutschland.

Auch das Verhältnis zwischen Journalisten und Politikern ist komplex. Die Interviewpartner betonen den aktuellen Trend, dass Politiker über soziale Medien direkt mit den Bürgern kommunizieren und daher nicht mehr auf Journalisten und professionelle Medien angewiesen sind, um ihre Botschaften zu verbreiten. Das wiederum führt dazu, dass Journalisten mehr und mehr von den Online-Posts der Politiker abhängig sind. Die Befragten sehen darin die Gefahr einer Schwächung der Demokratie: „Es ist ein Verteilungsproblem und offensichtlich können wir nicht zu den alten Zeiten zurückkehren, als Journalisten noch die Gatekeeper waren. Und ich glaube nicht, dass das gut war, es war nicht sehr demokratisch, aber was wir jetzt haben, ist sowohl schlecht für Journalisten als auch für die Demokratie“, sagt András Pethő, Herausgeber der ungarischen investigativen Plattform Direkt36.

Medien und Verantwortung

Damit die Medien ihre Rolle in „Post-Truth“-Zeiten erfüllen können, sehen die Journalisten ihre Verantwortung auch auf individueller Ebene: Sie seien der Gesellschaft gegenüber zu  Vertrauenswürdigkeit, Faktizität und dem Dienst am Gemeinwohl in Rahmen ihrer  Berufsethik und der geltenden Gesetze verpflichtet. Wie Redakteur Pethő betont: „Ich denke, wir müssen unseren Job ernst nehmen, aber ich denke, es ist besser, uns selbst nicht zu ernst zu nehmen.“

Der effektivste Weg, glaubwürdig zu bleiben, ist maximale Genauigkeit. Auch Transparenz ist Teil von Vertrauen. „Jeder, der Sensationsjournalismus betreibt, wird gefeuert. Deshalb versuchen wir, zu den Dingen, über die wir schreiben, keine Meinung zu äußern; wir versuchen, uns zurückzuhalten, zuzuhören und beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Wir distanzieren uns völlig vom Meinungsjournalismus. Ich denke, Journalisten sollten viel mehr Beobachter sein, die die Dinge in den richtigen Kontext stellen, und weniger Kommentatoren dessen, was passiert“, fügt die investigative Journalistin Holcová hinzu. Außerdem betont sie, dass das Fakten checken gleichzeitig eine Absicherung für Journalisten vor möglichen Vorwürfen seien.

Empfehlungen für die Ausbildung von Journalisten

Alle von uns interviewten Journalisten sind der Meinung, dass stetige Weiterbildung während der gesamten Laufbahn unerlässlich ist. Einige von ihnen waren oder sind sogar aktiv an der Ausbildung von Journalisten beteiligt oder unterrichten Journalismus an Universitäten. Unsere Interviewpartner haben Fähigkeiten und Eigenschaften zusammengetragen, die sich Journalisten aneignen müssen und in denen sie immer wieder geschult werden sollten:

  • nicht nur das Schreiben, sondern auch das Verstehen des logischen Aufbaus von Texten
  • Fremdsprachenkenntnisse
  • analytisches Denkvermögen
  • ökonomische Grundbildung
  • Auseinandersetzung mit der journalistischen Ethik
  • Nutzung von Computersoftware

Darüber hinaus betonen sie die besonderen Fähigkeiten, die Journalisten mit Schwerpunkt auf politischem oder investigativem Journalismus benötigen:

  • Geduld
  • Disziplin
  • angemessene Interviewtechnik
  • Grundwissen über Datenanalyse und Statistik
  • die Fähigkeit, mit offiziellen Dokumenten und Quellen zu arbeiten
  • Teamarbeit
  • Resilienz in “unangenehmen” Situationen
  • Planung und Organisation großformatiger Projekte

Eine umfassende Übersicht zur Studie ist im kürzlich veröffentlichten NEWSREEL2-Forschungsbericht zu lesen.

 

Beitragsbilder: Stanislav Krupař, Archiv des Fachbereichs für Medienwissenschaften und Journalismus, Masaryk-Universität.

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