Sauber berechnet

11. Oktober 2010 • Ressorts • von

Automatisierte Nachrichtensortierung mit Hilfe der Nachrichtenwertforschung

Den Rezipienten mehr Macht. Die Diskussion über individuell zugeschnittene Nachrichtenangebote wurde mit den verbesserten technischen Möglichkeiten in den letzten Jahren zu einem Dauerbrenner. In der Praxis fanden bislang aber sicherlich nicht mehr als Experimente statt. Das Persönliche fristet trotz aller Möglichkeiten und Verheißungen ein Randdasein im aktuellen Informationsgeschäft. Die Gründe dafür sind nur teilweise technischer Natur. Ein wesentlicher Knackpunkt ist die Organisation der journalistischen Auswahlarbeit. Ein personalisiertes Angebot muss die vielen verschiedenen Nutzerwünsche ohne Einschnitte bei der Professionalität bedienen können. Bisherige Versuche brachen häufig mit den Erwartungen, die in unserer Gesellschaft an Nachrichten gerichtet werden – nämlich einen kompetenten, unabhängigen Überblick über relevante Entwicklungen zu liefern, in geeigneter Aufbereitung für das jeweilige Medium.

Der Blick über den Tellerrand der Praxis kann helfen, eine neue Richtung einzuschlagen. Die Kommunikationswissenschaften bieten mit der Nachrichtenwertforschung einen Ansatz, an den sich optimal anknüpfen lässt. Denn er schaut auf die inhaltlichen Kriterien (Nachrichtenfaktoren), die den Weg von Themen im Nachrichtengeschäft steuern. Je mehr solcher Faktoren mit besonders hoher Ausprägung zusammenkommen, desto relevanter wird ein Thema. Solche Berechnungen fanden bis jetzt allein in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung statt. Auf dieser Basis ließe sich jedoch auch im Redaktionsalltag ein Nachrichtenwert ermitteln. Einzelne Nachrichten könnten so in einer automatisierten Zusammenstellung in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden.

Der redaktionelle Ablauf sähe wie folgt aus: Der Wert wird erst nach der grundsätzlichen Auswahl der Themen, ihrer Aufbereitung und Ressortzuordnung bestimmt. Dies stellt sicher, dass die Gatekeeper-Rolle der Journalisten nicht beschnitten wird. Erst die Angebotszusammenstellung ist dann personalisiert, etwa über Ressortwünsche der Nutzer.

Wichtig ist: Der Bewertungsprozess muss im oft sehr hektischen Nachrichtengeschäft praktikabel sein. Der wissenschaftlich vor allem über Inhaltsanalysen aufgestellte Katalog umfasst jedoch mehr als 20 Nachrichtenfaktoren. Damit wird eine deutliche Vereinfachung notwendig. Außerdem muss geklärt werden, inwiefern die Faktoren auch aus redaktioneller Perspektive gültig sind bzw. dies angenommen werden kann.

Im Frühjahr 2008 fand hierzu eine ganztägige Gruppendiskussion mit Nachrichtenjournalisten statt. Die Studie ist Teil einer Dissertation zur Gestaltung von Audio-Nachrichtenpodcasts. Die Teilnehmer kamen von verschiedenen Medien (Fernsehen, Hörfunk, Nachrichtenagenturen, Online, Print). Ein solches Aufeinanderprallen verschiedener Erfahrungen zwang die Runde dazu, die bei Einzelbefragungen so oft beklagte Sprachlosigkeit zu überwinden. Denn in dem Moment, wo etwa der Hörfunkjournalist dem Online-Kollegen seine Nachrichtenauswahl erklären musste, konnte er nicht nur allgemein auf seinen Instinkt oder die redaktionelle Routine verweisen. Inhaltliche Anknüpfungspunkte bot eine Auswahlaufgabe mit Original-Agenturmaterial. Neu gegenüber dem bisherigen Vorgehen bei Interviews war auch, dass die Teilnehmer nach der offenen Diskussion explizit gebeten wurden, den derzeit etablierten Katalog (Ruhrmann/Göbbel 2007: 41f.) hinsichtlich seiner Gültigkeit zu überprüfen und falls nötig, Änderungen vorzunehmen.

Heraus kamen zahlreiche Überarbeitungsvorschläge. Nur fünf Faktoren blieben unverändert (deutsche Beteiligung, Prominenz, Überraschung, Gewalt und Sexualität). Die Nachrichtenjournalisten weiteten die medienspezifischen Kriterien über den visuellen Bereich hinaus aus. Sie passten den Katalog an eine immer internationaler gewordene Nachrichtenarbeit an – für die etwa die Erreichbarkeit eines Ortes, beispielsweise per Billigflieger, wichtiger sei als die rein geografische Nähe bzw. Distanz. Hinzu kamen Ausdifferenzierungen der Faktoren Reichweite, Folgen und Themenetablierung. Bei der Etablierung zähle nicht nur, wie lange über ein Thema berichtet wird, sondern auch, wer es tut (Einfluss von Leitmedien). Bei der Reichweite unterschieden die Journalisten zwischen drei Ebenen: der Gesellschaft (Betroffenheit im gesellschaftlichen Verbund), den Rezipienten (Betroffenheit der spezifischen Zielgruppe) sowie den Kommunikatoren (direkte Betroffenheit der auswählenden Journalisten von einem Ereignis). Auch die Folgen sind hinsichtlich der Auswirkungen auf die Gesellschaft und für die jeweilige Zielgruppe zu unterteilen.

Der unterschiedlich starke Einfluss der einzelnen Faktoren auf die Nachrichtenauswahl wurde ebenfalls thematisiert. Dass es hier keine starre, kontextübergreifende Rangliste geben kann, war klar. Allerdings gibt es aus Sicht der Runde durchaus wichtigere und weniger wichtigere Faktoren. Zu den wichtigeren zählten die Journalisten die Folgen, Reichweite, Überraschung sowie die Nähe (in ihren unterschiedlichen Ausprägungen).

Mit diesen Ergebnissen ließ sich nun tatsächlich der Bogen zwischen Theorie und Praxis spannen. Das Bewertungsmodell für eine automatisierte Sortierung basiert auf zwei Grundlagen:

1. Es beschränkt sich auf die als wichtiger eingestuften Faktoren. Um den notwendigen Arbeitsaufwand möglichst gering zu halten, wurden außerdem die Faktoren der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbindung (vorher: Nähe) zusammengefasst.

2. Sein Berechnungsschema orientiert sich an der vorgenommenen Faktorensortierung. So war etwa die gesellschaftliche Betroffenheit für die Journalisten bedeutsamer als die der jeweiligen Zielgruppe.

Schema zur Berechnung des Nachrichtenwertes (pdf zum Download)

Natürlich ist dieses Schema nicht starr, sondern es sollte für die spezifischen Bedürfnisse einzelner Nachrichtenangebote abgeändert werden. Das gilt sowohl für die Auswahl der zu bewertenden Faktoren, als auch für ihre Wertigkeit in der Berechnung. Denn wie es schon Kepplinger in seinem Zwei-Komponenten-Modell darstellte: Ein Nachrichtenwert entsteht erst dann, wenn die inhaltlichen Eigenschaften von Themen auf spezifische Auswahlkriterien treffen.

Ein erster Testlauf mit diesem medienübergreifend angelegten Modell belegt, dass eine automatisierte Nachrichtenzusammenstellung funktionieren könnte. Hierzu wurde – nicht repräsentativ – der Nachrichtenwert für Themen berechnet, für die sich die Journalisten aus der Gruppendiskussion in einer Auswahlaufgabe am häufigsten entschieden hatten. Heraus kam eine tatsächlich sinnvolle Sortierung: Themen mit ausgeprägter gesellschaftlicher und individueller Reichweite sowie Folgen rückten nach vorne, wie etwa die Einigung im großen Tarifstreit 2008 im Öffentlichen Dienst oder der Überschuss der Öffentlichen Haushalte. Themen, die bei der Auswahl durch die Journalisten vor allem wegen ihrer Etablierung berücksichtigt worden waren, landeten hingegen weiter hinten. Beispiele sind hier die Diskussion um eine Präsidentschaftsstichwahl in Simbabwe oder die Ermittlungen zu dem tödlichen Holzklotzwurf von einer Autobahnbrücke.

Möglicherweise kann eine solche Bewertung sogar dazu beitragen, das Nachrichtenangebot qualitativ zu verbessern. Denn schon der Testlauf hat gezeigt: Die zuständigen Journalisten werden gezwungen, die Relevanz eines Themas zu reflektieren. Dies wirkt reinem Routine-Handeln und auch Fehleinordnungen entgegen. Gleichzeitig könnte der Einfluss der Themenkarriere begrenzt werden. Erreicht ein Thema in der Berechnung einen nur geringen Wert, so rutscht es nach hinten – unabhängig davon, ob es sich um einen Dauerbrenner handelt oder nicht. Der lästige Druck, es wegen längerer Etablierung weiter zu berücksichtigen, ist hier irrelevant.

Darüber hinaus ist aber vor allem eins wichtig: Die Rollenverteilung zwischen Journalisten und Nutzern bleibt weitestgehend bestehen. Die Leser, Hörer oder Zuschauer können ihre Nachrichten (in eingeschränktem Umfang) nach persönlichen Wünschen gestalten, und zwar, ohne in eine Kommunikatorrolle gedrängt zu werden. Bei einer solchen automatisierten Sortierung finden die Auswahlentscheidungen nach wie vor im redaktionellen Kontext statt. Die hier so wichtigen Einflüsse werden nicht ausgehebelt, die Nachrichten nicht zum Mitmach-Angebot. Damit sind auch die Voraussetzungen geschaffen, um das skizzierte Modell erfolgreich in bestehende Redaktionsstrukturen zu integrieren.

Literatur:

Diehlmann, N. (2003): Journalisten und Fernsehnachrichten. In: Ruhrmann, G./Woelke, J./Maier, M./Diehlmann, N. (Hrsg.): Der Wert von Nachrichten im deutschen Fernsehen. Ein Modell zur Validierung von Nachrichtenfaktoren. Opladen, S. 99-144.

Kepplinger, H. M. (2006): Forschungslogik der Nachrichtenforschung: Theoretische Grundlagen. In: Wirth, W./Fahr, A./Lauf, E. (Hrsg.): Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft. Band 2: Anwendungsfelder in der Kommunikationswissenschaft. Köln, S. 15-34.

Kühn, K. (2010): Individuell und jederzeit. Anforderungen einer neuen Medientechnik an Nachrichten am Beispiel des Audio-Podcasting. Berlin. (im Druck)

Ruhrmann, G./Göbbel, R. (2007):

Veränderungen der Nachrichtenfaktoren und Auswirkungen auf die journalistische Praxis in Deutschland. Wiesbaden.

Erstveröffentlichung: Journalistik Journal 2/2010

Die Studie und das vorgestellte Modell sind Teil einer am Dortmunder Institut für Journalistik verfassten Dissertation zur Gestaltung von Nachrichten für das Audio-Podcasting. Die Arbeit wird im Herbst 2010 beim Logos Verlag veröffentlicht.


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