Sonderausgabe des Journal of Middle East Media erschienen: “Medienverantwortung in der arabischen Welt”

22. Juli 2022 • Aktuelle Beiträge, Forschung aus 1. Hand, Internationales • von

Das Journal of Middle East Media (JMEM) widmet seine neueste Sonderausgabe der Medienverantwortung in der arabischen Welt. Grundlagenforschung und Länderstudien bieten Einblicke jenseits typisch westlicher Medienverantwortungssysteme.

Die Sonderausgabe zu Medienverantwortung des Journal of Middle East Media enthält Länderstudien aus Marokko, Libyen, Ägypten, Jordanien und Syrien.

Prof. Dr. Susanne Fengler und Monika Lengauer, Institut für Journalistik (ij) und Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus (EBI), TU Dortmund, sind Herausgeberinnen der Sonderausgabe des JMEM, die unter dem Titel „Media accountability in the Arab World“ im Juni 2022 publiziert worden ist. Neben zwei einführenden Aufsätzen mit Grundlagenforschung zur Medienverantwortung in der arabischen Welt umfasst die Ausgabe neueste Analysen zur Medienverantwortung mit Länderstudien Marokko, Libyen, Ägypten, Jordanien und Syrien. Das Konzept der Medienverantwortung umfasst nicht-staatliche Mittel, welche die Medien gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig machen und die nicht nur Journalisten, sondern auch Mediennutzer und andere Interessengruppen der Medien in den Prozess des journalistischen Qualitätsmanagements einbeziehen.

Acht Modelle der Medienverantwortung weltweit identifiziert

Susanne Fengler dekonstruiert in ihrer Untersuchung den theoretischen Ansatz der Medienverantwortung und setzt ihre internationalen und europäischen Forschungsarbeiten in Beziehung zu empirischen Arbeiten aus arabischen Ländern. Fengler stellt in ihrem Artikel fest, dass das Konzept der Medienverantwortung ursprünglich mit Blick auf westliche Demokratien entwickelt wurde. Ihre Untersuchung kommt jedoch zu dem Schluss, dass die Demokratisierung in Ländern, die früher durch eine rigide Pressekontrolle gekennzeichnet waren, Räume für Selbstregulierung der Medien eröffnet hat. Ihr Artikel “A conceptual framework to study media accountability in the MENA region” stellt in der JMEM-Sonderausgabe acht globale Modelle der Medienverantwortung vor, wobei sie sich hier thematisch auf die Region Middle East and North Africa (MENA) konzentriert, in der das “Mimikry-Modell” und das “ausländische Gebermodell” der Medienverantwortung als Formate der Medienselbstregulierung vorherrschen.

Quelle: Fengler, S., Eberwein, T., & Karmasin, M. (2022). Global Handbook of Media Accountability, Seite 566

Fengler erläutert: „Die Rahmenbedingungen für die Rechenschaftspflicht der Medien unterscheiden sich in demokratischen Staaten grundlegend von denen in Übergangsländern und Ländern mit eingeschränkter Pressefreiheit: In letzteren haben Journalistenverbände und `Medienräte´ nicht die Tradition, eine Vereinigung unabhängiger Fachleute zu sein, sondern staatliche Instrumente zur Kontrolle des Zugangs zum Beruf.“ Das Konzept der Selbstregulierung der Medien verschleiere in der Praxis in einigen Ländern nur die Zensur. In der Sonderausgabe des JMEM nimmt Fengler auch auf die 2022 publizierte und weltweit vergleichenden Analyse The Global Handbook of Media Accountability Bezug und stellt fest: „Tunesien (und in gewissem Maße der Irak) sticht aus der Gruppe der MENA-Länder heraus, da der massive Zustrom von internationalen Geldgebern nach dem politischen Wandel in beiden Ländern dazu beigetragen hat, zumindest erste wichtige Infrastrukturen der Medienverantwortung für unabhängigere Debatten über die journalistische Qualität zu schaffen“. Bis dato gilt Tunesien als einziges MENA Land, das über einen funktionierenden Presserat sowie über Ombudsleute in Nachrichtenredaktionen verfügt als effektive und unabhängige Form von Instrumenten der Medienverantwortung.

Transformationsländer: Anstoß der Medienverantwortung durch internationale Geber

Das in solchen Ländern anzutreffende System der Medienverantwortung wird in der Forschung als “foreign donor models of media accountability” beschrieben (Fengler et al., 2022, S. 566). In mehreren Ländern sind internationale Geber, die im Bereich der Medienentwicklung tätig sind, in der Anfangsphase der Transformation in die lokalen Medienmärkte eingedrungen, um Unterstützung bei der Etablierung von Professionalität und Pluralismus zu leisten. Neben Projekten zum Kapazitätsaufbau und zur Medienkartierung und in den letzten Jahren zunehmend der Einrichtung lokaler und internationaler NRO-Watchdog-Initiativen zur Bekämpfung von Hassreden war die Einrichtung von Instrumenten der „Media Accountability“ wie selbst- oder mitregulierenden Presseräten ein Schwerpunkt dieser Medienentwicklungsinitiativen. In den entscheidenden Phasen des Übergangs erwiesen sich die lokalen Mediensysteme als zu schwach, um Strukturen für die Rechenschaftspflicht der Medien zu entwickeln. NRO-Initiativen versuchen, dysfunktionale professionelle Strukturen zu ersetzen und die Professionalität durch den Aufbau von Kapazitäten im Bereich der Rechenschaftspflicht zu fördern.

Im Gegensatz dazu sind die Fälle Marokkos und Jordaniens laut der Untersuchung durch starke Elemente der “Vereinnahmung” von Instrumenten der Medienverantwortung und von Berufsverbänden des Journalismus gekennzeichnet. Marokko hat in den vergangenen Jahren einen gesetzlich verankerten Medienrat eingerichtet, aber die Bezeichnung “Rat” scheint absichtlich irreführend zu sein, und muss wohl eher als ein Beispiel für die “Vereinnahmung der Medien” durch ein “wettbewerbsorientiertes autoritäres Regime” betrachtet werden. Der Vorstand dieses “Medienrats” wird von Vertretern oder Agenten der Regierung und nicht von gewählten Fachleuten dominiert. Die getroffenen Entscheidungen stellen Zensur oder Verletzungen der Pressefreiheit nicht in Frage. Auch der Beschwerdeausschuss des jordanischen Presseverbandes scheint ein subtileres Mittel zu sein, um die Kontrolle über den Berufsstand auszuüben. Folglich erfüllen diese Räte nicht die normativen Kriterien für unabhängige Presse- oder Medienräte, wie sie von der UNESCO (2008) oder dem Europarat (2008) festgelegt wurden. Oftmals werden Medienräte wie beispielsweise der in Ägypten als staatliche Instrumente zur Kontrolle des Berufsstands und zur Verhängung strenger Sanktionen eingesetzt und weniger um ethische Grundsätze und Medienfreiheit zu garantieren. Dies jedoch wird in anderen Transformationsländern In den meisten der genannten Länder können die Presse- und Medienräte Geldstrafen verhängen und haben in einigen Fällen rechtliche Befugnisse, die sogar zur Schließung von Medienunternehmen führen können. In einigen Ländern regeln die “Räte” den Zugang zu öffentlichen Werbeausgaben und haben Regelungsbefugnisse im Bereich des Wettbewerbsrechts. Einige “Räte” regeln den Zugang zum Journalistenberuf durch die Ausstellung von Presseausweisen. Auch wenn die Verfassung dieser Länder auf dem Papier Meinungsfreiheit gewährt, werden Journalisten durch andere Gesetze zur nationalen Sicherheit, zum Anstand, zum Terrorismus oder zur Internetkriminalität stark eingeschränkt.

Es bleibt die Frage: Warum richten autoritäre Länder überhaupt solche “Räte” ein?

Fengler vermutet, dass dies ein unbeabsichtigter Effekt der Entstehung von Medienverantwortung als Hypernorm in der Medienpolitik als Teil der Global Governance sein könnte. Trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen den journalistischen Kulturen gibt es auch viele Anzeichen, die auf einen länderübergreifenden Trend zur Konvergenz der journalistischen Rollenkonzepte und damit auf die Entwicklung global akzeptierter Hypernormen im Bereich der Medienverantwortung hinweisen. Mit dem Ziel, die Zivilgesellschaft zu stärken und damit einen langfristigen Wandel hin zu mehr Demokratie zu unterstützen, fördern die (meist westlichen) Geberländer seit Jahrzehnten Medien und Journalismus in Transformationsländern (Hamdy, 2008). Mit dem Hinweis darauf, dass die Existenz freier Märkte untrennbar mit der Existenz freier Medien verbunden ist, hat auch die Weltbank die wirtschaftliche Bedeutung der Medienentwicklungshilfe hervorgehoben. So können Regierungen in nicht-demokratischen bzw. Übergangsgesellschaften auf internationalen (Vertrags-)Druck reagieren, um sich für Entwicklungshilfe zu qualifizieren, indem sie Fassaden-Instrumente zur Förderung von Media Accountability einrichten, welche die echten nachahmen. Und auch wenn die Empfängerländer in vielen Fällen nicht bereit sind, echte Medienreformen durchzuführen, können solche Initiativen dennoch nachhaltige Effekte haben und lokale Akteure ermutigen, die sich um die Rechenschaftspflicht und Selbstregulierung der Medien bemühen.

Hochschulgebundene Ausbildung als wesentliches Element der Professionalität im arabischen Journalismus

Mit Fokus auf die Journalistenausbildung an arabischen Universitäten untersucht Monika Lengauer in ihrem Beitrag „Media accountability in MENA through the perspective of the theory of the professions“ in der JMEM-Sonderausgabe die Professionalität von Journalisten und damit verbundene Aspekte wie Verbandsorganisation, Autonomie, Ethik, Wissen und tertiäre Bildung. Sie zeigt, dass Professionalität im Sinne der Professionssoziologie in der MENA-Region ein vertrautes Konzept ist, das mit etablierten Begriffen in der arabischen Sprache einhergeht. Jedoch stelle der Mangel an Freiheiten in den vier arabischen Ländern ihrer Studie – Marokko, Ägypten, Libanon, Katar – ein großes Hindernis für Professionalität dar. Lengauers Studie legt nahe, dass Wissen – abstraktes, theoretisches Wissen und seine spezialisierte Technik – das in und durch Universitäten generiert, vermittelt und weitergegeben wird, in der arabischen Welt als Hauptmerkmal der Professionalität auftritt.

Lengauer erläutert, dass die Mehrheit der Journalisten auch in der MENA Region einen Universitätsabschluss haben. In den fünf arabischen Ländern – Ägypten, Oman, Katar, Sudan, VAE – der Studie Worlds of Journalism (WJS; Hanitzsch et al., 2019) haben über achtzig Prozent der Journalisten nach eigenen Angaben einen Hochschulabschluss. Journalistische Verbände tragen traditionell eine wichtige Rolle als Repräsentanten der unabhängigen Selbstregulierung, wobei Studien nahelegen, dass es den Verbänden im arabischen Journalismus an Autonomie, Selbstregulierung und Inklusivität fehlt; Badr (2020) zeigt dies für Ägypten auf. Hier schliessen Journalistenverbände zum Beispiel Freiberufler, Journalismus Studenten und die wachsende Gruppe der Social-Media-Produzenten von der Mitgliedschaft aus.

Die meisten Journalisten in den untersuchten Ländern der WJS geben an, in Vollzeit zu arbeiten (z.B. rund 63% in Katar und 84% in Ägypten), müssen jedoch oft zusätzlich mit einem zweiten Job außerhalb des Journalismus ihr Einkommen aufbessern (z. B. in Ägypten und Katar etwa 30%). Die politische, wirtschaftliche und organisatorische Einflussnahme auf ihre Berichterstattung bewerten arabische Journalisten im internationalen Vergleich als sehr hoch, und sie nehmen ihre redaktionelle Autonomie vergleichsweise als sehr gering wahr.

Lengauer schlussfolgert, dass die hochschulgebundene Ausbildung im arabischen Journalismus ein wesentliches Element der Professionalität ist, wobei andere Merkmale der Professionssoziologie wie Verbandsorganisation, Autonomie oder Ethik aufgrund begrenzter Freiheiten (inklusive akademischer Freiheit und Pressefreiheit) fragmentarisch bleiben.

Spezifische Einblicke: Medienverantwortung von Marokko bis Jordanien

Fünf weitere empirische Länder-Fallstudien in der Sonderausgabe des JMEM zeigen unterschiedliche Systeme und Ansätze zur Medienverantwortung im Maghreb und in der Levante: Die Forscher Abdelmalek El Kadoussi, Bouziane Zaid und Mohammed Ibahrine fanden heraus, dass soziale Medien zu den am meisten geschätzten Instrumenten der Medienverantwortung in Marokko gehören, während Khaled Gulams Analyse der Medienverantwortung in Libyen zeigt, dass die anhaltenden politischen und bewaffneten Konflikte Reformen und neue Gesetze zur Regulierung des Mediensektors behindern. Nadia Leihs hingegen untersucht in ihrem Beitrag, welche Instrumente der Medienverantwortung in den ägyptischen Medien existieren und wie sie von Journalisten wahrgenommen werden.

Ayman Georges Mhanna und Karim Safieddine zeigen in ihrem Beitrag auf, dass im Libanon die Qualität der offiziellen Organe wie durch die Regierung eingesetzte Medienräte für die Medienverantwortung im Allgemeinen in der Ausübung eher schlecht ist, während zivilgesellschaftliche Watchdog-Organisationen und NGOs jedoch sehr aktiv im Bereich der Medienverantwortung sind.

Quelle: Journal of Middle East Media, Vol. 16, 2021, Seite 192

Laut Mhanna wirft der Begriff „Media Accountability“ im MENA-Kontext Fragen über deren Definition auf, zumal in der JMEM Sonderausgabe Medienverantwortung in einer Region untersucht wird, die von staatlicher Unterdrückung und Kooptation geprägt ist. Die Fallstudie Libanon über das Konzept und die Anwendung von Medien Medienverantwortung versucht nicht nur, die Instrumente der Medienverantwortung im Libanon zu definieren und zu kartieren, sondern auch die Wahrnehmung des Begriffs „Media Accountability” im Libanon, die möglicherweise eine negative Rolle gegenüber der Autonomie und Freiheit von Medienschaffenden und Journalisten spielen kann, insbesondere wenn Staatsorgane, die “Media Accountability” als Schlagwort verwenden, um Formen der Repression oder Zensur zu rechtfertigen. Auf der Grundlage der Sekundärforschung und qualitativer Daten werden in dieser Spezialausgabe des JMEM Erkenntnisse über die Art dieser Instrumente im libanesischen Kontext vorgestellt, sei es in Bezug auf ihre Auswirkungen und ihres Verhältnisses zu Schlüsselfragen wie Redefreiheit, Selbstzensur und finanzielle Nachhaltigkeit

Die Forschenden Philip Madanat und Judith Pies fanden anhand einer Befragung heraus, dass Medienfreiheit für die jordanische Journalisteneine Priorität darstellt und dass sie die Rechenschaftspflicht der Medien als einen begleitenden Prozess betrachten. In einer weiteren Studie in Syrien stellen Pies und Madanat fest, dass in Zeiten gewaltsamer Konflikte der Bedarf an verantwortungsvollen Medien im Land wächst.

Der Wert des Sonderheftes besteht darin, wie Fengler vorschlägt, “die Perspektive zu erweitern und die vielen Formen der Medienverantwortung jenseits der typisch westlichen Medienverantwortungssysteme zu berücksichtigen”. Ein sehr wichtiger Aspekt dieser neuen Sonderausgabe des JMEM ist, dass die Autoren für jedes Land entsprechende Empfehlungen aussprechen, wie die Medienfreiheit und die Instrumente der Medienverantwortung in der MENA-Region gestärkt werden können. Diese Empfehlungen waren ebenfalls Teil einer vom Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus in 2021 veröffentlichten Pilot-Studie unter dem Titel „Media Accountability in the MENA Region“.

JMEM wird von der Arab-US Association for Communication Educators (AUSACE) herausgegeben und ist an der Universität von Katar in Doha, Katar, angesiedelt. Es handelt sich um eine Online-Ressource, die als Open Source auf Arabisch und auf Englisch verfügbar ist.

Literatur:

Badr, H. (2020). The Egyptian syndicate and (digital) journalism’s unresolved boundary struggle. Digital Journalism 64(2), 1-20.

Fengler, S., Kurkowski, I., Lengauer, M. (2021). Pilot Study – Media Accountability in the MENA Region. Erich Brost Institute for International Journalism, TU Dortmund University, Dortmund, DOI: 10.17877 / DE290R-21921

Fengler, S., Eberwein, T., Karmasin, M., Barthel, S., & Speck, D. (2022). Media accountability: A global perspective. In S. Fengler, T. Eberwein, & M. Karmasin (Eds.), The global handbook of media accountability. London and New York, NY: Routledge.

Hamdy, N. (2008). Building capabilities of Egyptian journalists in preparation for a media in transition. Journal of Arab and Muslim Media Research, 1(3), 215–243.

Hanitzsch, T., Hanusch, F., Ramaprasad, J., & de Beer, A. S. (Eds.) (2019a). Worlds of journalism: Journalistic cultures around the globe. New York: Columbia University Press.

Josephi, B., Hanusch, F., Alonso, M. O., Shapiro, I., Andresen, K., de Beer, A., … Tandorc, E. C. (2019). Profiles of journalists. In T. Hanitzsch, F. Hanusch, J. Jamaprasad, & A. de Beer (Eds.), Worlds of journalism. Journalistic cultures around the globe (pp. 67-102). New York: Columbia University Press.

Beitragsbild: Datawrapper

 

 

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