Alles wie früher

18. Mai 2015 • Digitales • von

Die Werbeeinnahmen von Facebook sind zehnmal höher als die von Twitter, die Nutzerzahlen dreimal so hoch. Kurt W. Zimmermann erklärt dieses Ungleichgewicht mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen der beiden.

Twitter als "intellektuelle Kampfzone"

Twitter als “intellektuelle Kampfzone”

Der Misserfolg von Twitter zeigt uns, dass auch in der neuen Medienwelt nicht alles neu ist.

Auch nach seinem Abgang vom Tennisplatz ist Boris Becker für eine Topleistung gut. Er liegt vorne, wenn Internetportale eine spezielle Umfrage starten. Es ist die Umfrage, wer den dümmsten Tweet aller Zeiten abgeschickt hat.

Becker ist top. Per Twitter gratulierte er Kanzlerin Angela Merkel zu einer Ehre, die sie nie bekommen hatte. Wörtlich twitterte er: “Großer Bewunderer von Angela Merkel! Ich bin sehr stolz und werde Patriot, als sie Friedensnobelpreis gewonnen hat!!!”

Becker verbreitete seine Message morgens um zwei. Das lässt leichte Rückschlüsse auf den temporären Promillegehalt des Absenders zu.

Ob benebelt oder nüchtern. Twitter ist in den Social Media sicherlich die Plattform, auf der am meisten Nonsens in die Welt hinausposaunt wird. 24 Stunden am Tag verbreiten die Nutzer hier Informationen und Einsichten, genauso häufig aber auch Gerüchte, Diffamierungen, Halbwahrheiten und Käse.

Twitter ist ein Kurznachrichtendienst. Die Botschaften der Nutzer haben maximal 140 Anschläge. Doch mit knappen 140 Anschlägen kann man mehr Blödsinn verbreiten als mit den 15.000 Anschlägen, die Platz auf einer Zeitungsseite haben.

“Ich könnte alle Südkoreaner verprügeln. Geht euch alle abfackeln, ihr Bande von Mongoloiden!”, twitterte etwa der Schweizer Profi-Fußballer Michel Morganella nach einer Länderspiel-Niederlage. Er wurde aus dem Team ausgeschlossen.

Achtzig Prozent der Tweets erfolgen mobil, meist über Smartphones. Das steigert die Leichtfertigkeit der Kommunikation. Man sitzt im Bus oder in der Bar, wird dabei von einem spontanen Gedanken gestreift, drückt auf die Tastatur, und schwups, schon verbreitet sich der Geistesblitz tausendfach multipliziert um die Welt.

Genauso schnell wie die Tweets sind auf Twitter darum die “Sorrys” für die Tweets. SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer etwa unterstellte einem Fraktionskollegen Mafia-Methoden. Sie tat es gegen Mitternacht. Sie entschuldigte sich umgehend. Sie habe den falschen Knopf gedrückt.

Soeben hat auch Twitter selbst die Dynamik des eigenen Geschäftsprinzips erfahren. Ein einzelner Tweet verbreitete, dass das Unternehmen die eigenen Ziele verfehlt habe. Sechs Sekunden danach stürzte der Börsenkurs um zwanzig Prozent ab und büßte sieben Milliarden an Marktwert ein.

Twitter ist aber mehr als ein Schnellschuss-System. Es ist auch eine Informationsplattform, auf der sich wertvolle Inhalte so verdichtet wie sonst nirgendwo finden. Es ist auch eine intellektuelle Kampfzone. Man streitet sich über öffentliche Belange, man diskutiert politische Themen. Man diskutiert kontrovers, Konflikte sind erwünscht.

Twitter ist hinter Facebook die Nummer zwei der Social Media. Facebook ist der unverbindliche Gegenentwurf. Hier sucht man Freundschaften, tauscht Ferienbilder aus und teilt Partyvideos. Privates verdrängt Öffentliches. Konfrontation ist unerwünscht.

Twitter hingegen ist eine erweiterte Form von Journalismus. Genau deswegen hat die Plattform Probleme. Twitter hat dreihundert Millionen monatliche Nutzer und macht 1,4 Milliarden US-Dollar an Werbeeinnahmen. Facebook hat dreimal so viele Nutzer, macht aber zehnmal so viel an Werbeeinnahmen. Twitter wächst langsam und schreibt Verluste, Facebook wächst schnell und schreibt hohe Gewinne.

Wir erleben damit eine interessante Differenzierung auch innerhalb der Social Media. Auch in der neuen Medienwelt haben es die Informationsanbieter ungleich schwerer als die Partyveranstalter.

Irgendwie kennen wir das schon von früher.

Erstveröffentlichung: Weltwoche vom 7. Mai 2015, S.23

 

Bildquelle: Pete Simon/flickr.com

 

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