„Best of Bundestag“: Die parlamentarische „Sportschau“ erreicht vor allem junge Menschen

25. März 2022 • Aktuelle Beiträge, Digitales, Qualität & Ethik, Redaktion & Ökonomie • von

181.000 Abonnenten und 58 Millionen Klicks, davon allein 20 Millionen im vergangenen Jahr: Der YouTube-Kanal „Best of Bundestag“ ist ein Beispiel für erfolgreichen Bürgerjournalismus auf digitalen Plattformen. EJO-Autor Roman Winkelhahn ordnet das Konzept wissenschaftlich ein.

Das Reichstagsgebäude in Berlin: Sitz des Deutschen Bundestages.

Die Leistungen des Journalismus bestehen in der Kopplung dreier Ebenen: Staat, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. So formuliert es Jürgen Habermas. Inzwischen sind es jedoch – vor allem im Online-Bereich – nicht nur noch professionelle Journalisten, die dieser Aufgabe der „zeitlichen, sozialen und sachlichen Synchronisation, Selbstbeobachtung und Integration der Gesellschaft“ (Blöbaum 2016, S. 155) nachgehen. Auch die Nutzer digitaler Plattformen, die Jay Rosen schon 2006 als „the people formerly known as the audience“ bezeichnete, tragen aktiv dazu bei. Im Internet überwinden Bürger die Rolle der passiven Rezipienten und können zu Laienjournalisten werden, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass Kommunikation hier unmittelbar sowie Kopplung und Rückkopplungen fast gänzlich synchron stattfinden. Journalismusforscher Martin Welker stellt fest: „Bürger ergänzen […] fehlende Perspektiven und Fakten professioneller Berichterstatter. Die Leistungsrollen der Laien haben sich hier deutlich verschoben, Bürger nehmen journalistische Leistungsrollen auf“ (2016, S. 395).

Ein solcher Laienjournalist (oder auch „Bürgerjournalist“) ist auch Dennis Schneevogt. Der 22-Jährige betreibt den YouTube-Account „Best of Bundestag“ – und das mit Erfolg: 181.000 Abonnenten hat sein Kanal. Zusammen kommen seine Videos auf mehr als 58 Millionen Klicks, wovon sich laut der Analyseplattform NoxInfluencer allein im vergangenen Jahr 20 Millionen angesammelt haben. Schneevogts beliebtestes Video mit aktuell mehr als 4,6 Millionen Klicks ist ein 13-minütiger Zusammenschnitt von Redebeiträgen des Linken-Politikers Gregor Gysi.

Politische Bildung durch Bürgerjournalismus

Dennis Schneevogts Konzept ist es, hitzige, laute und lustige Momente aus den aktuellen Debatten im deutschen Bundestag zusammenzuschneiden und parallel zur jeweils laufenden Legislatur- und Sitzungsperiode zu veröffentlichen. Angefangen hat alles vor vier Jahren mit dem kurzen Video „Bundestag: Patzelt will nicht aufhören zu reden“, in dem der CDU-Abgeordnete Martin Patzelt vom ehemaligen Bundestagspräsidenten Thomas Oppermann (SPD) auf den Ablauf seiner Redezeit aufmerksam gemacht wird. Schneevogts Reihe von Zusammenschnitten ganzer Parlamentsdebatten begann mit der elften Sitzung des 19. Deutschen Bundestages, damals noch mit dem Kabinett Merkel auf der Regierungsbank und Wolfgang Schäuble (CDU) im Präsidium.

Mit seinen Videos, die mal parlamentarischen Streit, mal Witz und Humor aus den Reihen der Abgeordneten zeigen, leistet Dennis Schneevogt einen Beitrag zur politischen Debatte, den der YouTuber so auch als Selbstverständnis hinter seinem Projekt versteht: „Angefangen habe ich aus Lust und Zeit, mittlerweile sehe ich es aber als meine Aufgabe, den Leuten Politik näherzubringen – und zwar unterhaltsam und informativ.“ Damit entspricht Dennis Schneevogts Arbeit der Vermutung der Kommunikationswissenschaftlerin Christiane Eilders (2011, S. 174), dass sich die Rolle des Bürgerjournalismus als (in der Regel) nichtkommerzielle, von Entscheidungseliten abgekoppelte Medienpraxis äußert: „Vor dem Hintergrund der spezifischen Charakteristika der Zivilgesellschaft wäre […] eine stärker verständigungsorientierte Auseinandersetzung und […] eine stärker ausgeprägte Gemeinwohlorientierung wahrscheinlich.“ Außerdem kann Bürgerjournalismus laut Medienentwicklungsexpertin Nadine Jurrat „dort Lücken füllen, wo die Mainstream-Medien nicht oder nicht vollständig berichten“ (aus dem Englischen übersetzt nach Jurrat 2011, S. 12).

„Angefangen habe ich aus Lust und Zeit, mittlerweile sehe ich es aber als meine Aufgabe, den Leuten Politik näherzubringen—und zwar unterhaltsam und informativ.“

Schneevogt selbst vergleicht seine Arbeit mit der Sportschau: Wer keine Zeit hat, sich das gesamte Spiel anzuschauen, greift auf das Angebot zurück, eine Zusammenfassung der wichtigsten Szenen zu sehen. Der Durchschnittszuschauer von Schneevogts Videos ist zwischen 15 und 30 Jahren alt. Sein Angebot – die Sportschau zum Bundestag – erreicht demnach vor allem auch Erstwähler.

Jede Fraktion kommt zu Wort

Schneevogt selbst hat keinen professionellen journalistischen Hintergrund. Der Tatsache, dass er als Blogger grundlegende journalistische Entscheidungen trifft, eine Agenda setzt (vgl. Goode 2009, S. 1293) und für die Zuschauer seiner Videos eine Nachrichtenselektion trifft, ist er sich dennoch bewusst: „Ich versuche, die Videos so ausgewogen wie möglich zu gestalten. Meine Faustregel ist: pro Video ein Redner jeder Fraktion.“ Es sei „unmöglich“, alle Personen und Themen gleich zu behandeln, erklärt Schneevogt. „Brandaktuelle und sehr kontroverse Themen bekommen bei mir eine erhöhte Aufmerksamkeit.“

Ein Blick in den Parlamentssaal des Deutschen Bundestages.

Sein Videomaterial bezieht der YouTuber aus der Mediathek des Deutschen Bundestages – und bestätigt so die These von Nadine Jurrat. Die Wissenschaftlerin erklärt, dass es heute nicht viel braucht, um Bürgerjournalist zu sein: „Strom, ein[en] Computer oder ein Mobiltelefon mit Internetzugang, wenn möglich eine Breitbandverbindung, um Bilder und Videos hochzuladen, und eine Digitalkamera oder ein Mobiltelefon mit Kamera. Die Software zum Einrichten eines Blogs ist auf wordpress.org oder blogger.com frei erhältlich, und Bilder und Videos können innerhalb weniger Minuten auf spezialisierte Websites wie YouTube oder Flickr hochgeladen werden“ (aus dem Englischen übersetzt nach Jurrat 2011, S. 8).

Mit Plattformen wie YouTube lässt sich bekanntlich auch Geld machen. Dennoch hat sich Dennis Schneevogt gegen eine Kommerzialisierung von „Best of Bundestag“ entschieden, nicht zuletzt aus Sorge, „das Format damit kaputt zu machen“. Es ist jedoch allgemein nicht damit zu rechnen, dass der Bürgerjournalismus selbst in Zeiten wachsender Internet-Communities und noch immer anhaltender Digitalisierung schrumpfen wird. Im Gegenteil: Twitter, YouTube und andere Blogging-Plattformen wachsen. Sie bieten schnelle, fast synchrone und unmittelbare Kommunikationsmöglichkeiten und eine technologisch niederschwellige Veröffentlichungsbasis für jeden Laienjournalisten.

Ein berühmter Zollstock

Konträr zu dem, was Nadine Jurrat in ihrem Report „Citizen Journalism and the Internet” (2011) schreibt („Citizen journalists tend to bring themselves into the story; many see themselves as citizen activists“, S. 7), hält sich Dennis Schneevogt als Admin von „Best of Bundestag“ deutlich aus der Öffentlichkeit, die seine Videos erzeugen, zurück. Persönliche Rückmeldungen aus der Politik habe es für ihn dennoch bereits gegeben, beispielsweise eine Einladung des ehemaligen SPD-Abgeordneten Johannes Kahrs sowie ein Geschenk von Lothar Binding (SPD). Binding, ebenfalls ehemaliges Mitglied des Parlaments, vermachte „Best of Bundestag“ jenen Zollstock, mit dem er in einer Finanzdebatte im Jahr 2014 den Schuldenhaufen der Bundesregierung illustriert hatte.

 

Literatur

Eilders, C. (2011). Zivilgesellschaftliche Beteiligung im Medienbereich. In Hans J. Kleinsteuber & Sabine Nehls (Hrsg.), Media Governance in Europa. VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 159-181. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93265-1_9

Goode, L. (2009). Social news, citizen journalism and democracy. New Media & Society, 11(8), 1287–1305. https://doi.org/10.1177/1461444809341393

Jurrat, N. (2011). Mapping Digital Media: Citizen Journalism and the Internet. Open Society Foundations. Abgerufen von https://www.opensocietyfoundations.org/publications/mapping-digital-media-citizen-journalism-and-internet

Rosen, J. (2006). The People Formerly Known as the Audience. Abgerufen von http://archive.pressthink.org/2006/06/27/ppl_frmr.htm

Welker, M. (2016). Journalismus als Inklusions- und Partizipationsleistung. In Martin Löffelholz & Liane Rothenberger (Hrsg.), Handbuch Journalismustheorien. Springer Fachmedien. S. 385-402. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18966-6_23

 

Beitragsbilder: kschneider2991/pixabay.com und TobiasGolla/pixabay.com

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