Der neue Journalismus: investigativ und digital

12. Mai 2010 • Digitales, Qualität & Ethik • von

Erstveröffentlichung: Corriere del Ticino vom 07.05.2010

Quelle: Rugby.1823.blogosfere.it

Er ist 68 Jahre alt, sein Leben lang war er Print-Journalist, zuletzt Managing Editor des Wall Street Journal von 1991 bis 2007 – einem Zeitraum, in dem das Wirtschaftsblatt 16 Pulitzer-Preise gewonnen hat. Jetzt ist er Gründer und Direktor von ProPublica.

Paul Steiger hat mit seiner Erfahrung eine Non-Profit-Organisation erschaffen, die von ihrem Sitz in New York aus ein Jahresbudget von zehn Millionen Dollar in investigativen Journalismus investiert. Und das in der besten amerikanischen Tradition: verantwortungsbewusst und transparent, im Dienste der Bürgerinnen und Bürger und im öffentlichen Interesse.

Paul Steiger hat mit seiner Erfahrung eine Non-Profit-Organisation erschaffen, die von ihrem Sitz in New York aus ein Jahresbudget von zehn Millionen Dollar in investigativen Journalismus investiert. Und das in der besten amerikanischen Tradition: verantwortungsbewusst und transparent, im Dienste der Bürgerinnen und Bürger und im öffentlichen Interesse.

Doch nicht mehr auf Papier, wie es die Tradition will, sondern online. Genauer gesagt auf der Seite www.propublica.org, wo die Redaktion ihre Reportagen veröffentlicht und mit den Lesern teilt. Aber nicht nur mit ihnen: Andere Medien dürfen die Artikel kostenlos weiterverwenden. ProPublica ist eine Online-Zeitung, die nach den Regeln ihrer Zeit spielt: 2007 wurde das Projekt gegründet, 2008 wurden die ersten Artikel veröffentlicht und dann bereits zwei Jahre später ein Pulitzer-Preis gewonnen. Der Beitrag über Krankenhäuser in New Orleans nach dem Orkan Katrina war der erste Pulitzer-Preis, der je an eine Internetseite verliehen wurde.

Eine weitere wichtige Zutat fürs Erfolgsrezept ist die Zusammenarbeit mit tradionellen Medien. ProPublica glaubt fest an eine gemeinsame Nutzung seiner Inhalte. Sie kooperiert eng mit CNN, NBC, New York Times, Washington Post, Huffington Post und vielen weiteren US-amerikanischen Redaktionen mit dem Ziel, ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Print und die traditionellen Medien genießen weiterhin Ansehen und Glaubwürdigkeit. Sie können auf ein breites, interessiertes Publikum zählen, das ihnen relativ treu bleibt. Gleichzeitig können diese Medien in wirtschaftlich schwierigen Zeiten von ProPublica profitieren – als verlässliche Quelle für qualitative Inhalte und als Redaktion, welche mehr Zeit und Personal in Geschichten investieren kann. ProPublica gilt vielen als Vorbild und Modell für die Zukunft.

Das Erfolgsrezept? Ins Web investieren und daran glauben; verstehen, dass die neuen Technologien den Ansprüchen der Leser besser gerecht werden; die Redaktionen erneuern und auf junge Journalisten setzen. ProPublica beschäftigt inzwischen 40 Journalistinnen und Journalisten, die jüngste ist 23. Gleichzeitig kann die Redaktion auf ca. 5.000 Freiwillige und die Mitarbeit mehrerer Journalism Schools zählen.

Steiger selbst zweifelt auch nicht an einer Zukunft des Qualitätsjournalismus – vor allem seine investigative Spielart werde auf jeden Fall weiter existieren. Auch die Zeitungen werden seiner Meinung nach überleben. Wie diese Zukunft aussehen könnte und wie sich ProPublica dafür rüstet, haben wir Paul Steiger während des International Journalism Festival im italienischen Perugia gefragt.

Haben Sie damit gerechnet, einen Pulitzer-Preis zu gewinnen?

“Um die Wahrheit zu sagen, nein. Es war eine Überraschung und hat mich sehr gefreut. Andererseits, wenn ich an die von uns behandelten Geschichten des letzten Jahres zurückdenke, dann waren mindestens fünf davon auf Pulitzer -Niveau. Das sage ich aus Erfahrung. Ich war neun Jahre lang Mitglied in der Jury und kenne die Auswahlkriterien und nötigen Qualitätsstandards deswegen sehr gut. ProPublica bietet in Zusammenarbeit mit Zeitungen wie der New York Times genau diese Art von Journalismus. Die Anerkennung ist also verdient…aber trotzdem eine Überraschung.“

Wie ist die Idee für ProPublica entstanden?

“Es war das Resultat einer Serie von Ereignissen. 2006, als ich noch beim Wall Street Journal war, kamen Herr und Frau Sandler, mit denen ich schon seit langem gut befreundet war, zu mir und erzählten mir, dass sie zehn Millionen Dollar für ein Projekt zur Förderung des investigativen Journalismus bereitstellen möchten. Sie wollten dazu meine Meinung hören. 2007 habe ich sie wiedergetroffen und ihnen das Grundgerüst dessen vorgestellt, was später ProPublica werden sollte. Die beiden waren begeistert von der Idee.“

Haben Sie sich deshalb dazu entschieden, das Wall Street Journal zu verlassen und sich auf eine ganz und gar digitale Erfahrung einzulassen?

“2007 war ich schon im Pensionsalter. Der 31. Dezember war mein letzter Arbeitstag beim Wall Street Journal. Diesen Job habe ich bis zum Schluss sehr gemocht. Anfang Januar 2008 haben wir dann ProPublica Leben eingehaucht.”

Als Sie das Projekt gestartet haben, was war das Ziel?

“Eine Organisation zu kreieren, welche sich professioneller journalistischer Techniken bedient um Machtmissbrauch und Ungerechtigkeiten in Politik, Gesundheit, Verwaltung und Justiz aufzudecken.“

Ist Ihnen das gelungen?

“Wir haben gute Fortschritte gemacht. Wir sind unseren Plänen ein Jahr voraus, journalistisch gesehen. Natürlich gibt es weiterhin viel zu tun: Wir wollen die journalistische Qualität steigern, um unsere finanzielle Basis verstärken zu können. Zudem möchten wir die digitalen Möglichkeiten noch professioneller nutzen, um das Sammeln und Verbreiten von Informationen zu verbessern. Insgesamt bin ich sehr zufrieden damit, wo wir heute stehen.“

Wie ist ProPublica intern strukturiert?

“Herb Sandler ist Vorsitzender des Vorstands. Der Vorstand verkehrt nicht direkt mit den Journalisten und kennt die Themen nicht, an denen wir momentan arbeiten. Sie helfen und unterstützen uns vielmehr auf finanzieller und technischer Ebene.

Es gibt einen Direktor, das bin ich, und einen Geschäftsführer – Richard Tofel –, der Rechtsanwalt ist und Erfahrung mit PR und dem Non-Profit-Sektor mitbringt. Der Chefredakteur ist Stephen Engelberg, ein brillanter Journalist und ehemaliger investigativer Redakteur der New York Times. Ihm sind vier leitende Redakteure unterstellt, welche den rund 40 Journalisten, die für ProPublica arbeiten, zur Seite stehen. Natürlich gibt es dann noch Verantwortliche für die technischen Aspekte: Blogs, multimediale Applikationen, die sozialen Netzwerke und so weiter.“

Was beinhaltet bei Ihnen eine journalistische Recherche?

“Das kommt auf die Recherche an. Für die Geschichte, die den Pulitzerpreis gewonnen hat, sind die Journalisten mehrmals nach New Orleans gereist, haben Hunderte von Interviews geführt, unzählige Dokumente durchgearbeitet, die Krankenhäuser von oben bis unten auf der Suche nach Informationen durchforstet. Andere Recherchen wiederum verlangen längere Reisen … auch bis ans andere Ende der Welt.“

In anderen Worten heißt das, ProPublica macht guten, gesunden investigativen Journalismus, ganz traditionell – einfach mit neueren Mitteln als in der Vergangenheit?

“Ja, genau so ist es. Es ändert sich nicht die Qualität der Inhalte, sondern nur die Form.”

ProPublica baut auf die Zusammenarbeit mit Freiwilligen und Journalism Schools

“Ja, um es genau zu nehmen haben wir 5.000 junge Freiwillige, die mit uns zusammenarbeiten. Die Journalism Schools in den USA unterrichten nicht nur Journalismus, sondern geben auch viele Publikationen heraus, Online und Print. Früher war es schwierig für sie, richtig guten Journalismus zu machen – auch wenn sie genügend Mitarbeiter hatten, die Inhalte produzieren konnten. Doch Radio, Fernsehen und Zeitungen konnten diese Konkurrenz nicht gebrauchen. Heute hat sich die Situation drastisch verändert: die Redaktionen der traditionellen Medien haben sich um einiges verkleinert und das Web eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Meiner Meinung nach haben die Journalism Schools heute Professionalität – erfahrene Professoren, Know-How und motivierte, talentierte Studenten. Warum sollte man sie also nicht miteinbeziehen?“

Auch die traditionellen Medien werden bei ProPublica einbezogen?

“Ja, wie zum Beispiel die New York Times oder CNN. Es handelt sich dabei um eine Win-win-Situation, von der beide Seiten profitieren können: ProPublica kann so die Leserinnen und Leser der Printmedien und die Fernsehzuschauer erreichen, also ein Publikum, das sich nicht oder kaum im Netz bewegt. Die traditionellen Medien können auf die Ressourcen und qualitativen Inhalte zurückgreifen, welche wir auf der Seite anbieten.“

Was ist das Rezept für die Zukunft des Journalismus und der Zeitungen?

“Dafür habe ich leider auch kein Rezept. Wir wissen, dass die Werbeeinnahmen im Web unendlich kleiner sind als bei Print. Wenn die New York Times beschlösse, heute das Printgeschäft einzustellen und nur noch die Website zu machen, um Kosten zu sparen, würde sie noch mehr Erlöse verlieren, als dies ohnehin schon der Fall ist.”

Was soll also getan werden?

“Ein möglicher Weg ist auf jeden Fall, die Leute für Online-Inhalte mehr zahlen zu lassen. Die New York Times bewegt sich gerade in diese Richtung. Auch wenn so neue Einnahmen erzielt werden können, reichen diese andererseits noch lange nicht aus, um eine Zeitung am Leben zu erhalten. Eine weitere Möglichkeit ist, mehr auf Blogs und qualifizierten ‘Citizen Journalism’ zu setzen.”

Gibt es Ihrer Meinung nach in zehn Jahren noch Journalismus und Zeitungen?

“Ich denke ja. Aber die Zeitungen werden in Zukunft nicht mehr über alle möglichen Themen berichten. Die Zeitung als „Supermarkt“ funktioniert nicht mehr. Diese Funktion übernehmen heute Online-Dienste wie Google. Die Zeitungen müssen sich spezialisieren, einen Nischenjournalismus machen und originelle und qualitativ hochwertige Inhalte bieten. Sie werden auch nicht mehr jeden Tag erscheinen.”

Nutzen Sie persönlich Twitter und soziale Netzwerke?

“Nein. Ich nutze Twitter nicht und habe auch kein Facebook-Profil. Meine Frau ist 25 Jahre jünger als ich und Fashion Blogger. Sie sagt mir immer: ‘Wenn etwas auf Facebook steht, das du wissen solltest, dann werde ich es dir sagen.’ ProPublica als Institution hingegen nutzt soziale Netzwerke.”

Übersetzt aus dem Italienischen von Rahel Aschwanden

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