Russische Medien in Turbulenzen

4. Februar 2015 • Digitales, Internationales • von

Die russische Medienmanagerin Natalia Loseva hat für namhafte russische Medien die Internetpräsenz aufgebaut und weiterentwickelt. Natalia Popova hat mit ihr über aktuelle Entwicklungen im russischen Journalismus gesprochen.

 

 

Seit 1996 entwickeln Sie digitale Internetauftritte traditioneller Medien. Was hat sich grundlegend innerhalb dieses Jahres im russischen Journalismus verändert?

Tempo und Informationsvolumen haben sich verändert. Außerdem ist das Interesse an Nachrichten pro Zeiteinheit gestiegen. Das Publikum lebt heute in einem Zustand ständiger Spannung: Es bekommt und verarbeitet die Informationen online fast zeitgleich zum Ereignis. Die dabei entstehenden Gefühle werden mit Hilfe von Sozialen Netzwerkmedien weitergeleitet. Wenn es eine Maßeinheit für diese Spannung gäbe, dann würden wir in Russland einen großen Anstieg sehen, das zeigt die Forschung. Die Verbreitung des Internets ist hier groß und russische Internetnutzer sind in Sozialen Netzwerkmedien sehr aktiv. Das russische Publikum gehört zu den Spitzenreitern im Konsum und in der Verarbeitung von Informationen. Auffällig ist auch die starke Präsenz von sogenannten Meinungsmachern, auf Russisch: lidery mneniy, die häufig auch bloggen. Es sind meist Leute ohne journalistische Ausbildung, die ihr Publikum aber sehr erfolgreich beeinflussen und die mit den professionellen Medien konkurrieren.

Kann man bei diesen Meinungsmachern von “Graswurzel-Journalismus” sprechen?

Graswurzel-Journalismus bedeutet vor allem, dass Blogger für Medien schreiben oder fotografieren. Wir sprechen aber über etwas anderes, etwas Interessanteres. Heutzutage haben Blogger ihr eigenes Publikum. Man kann es mit dem Publikum herkömmlicher Medien vergleichen. Blogger können auf dieses Publikum Einfluss nehmen ohne die Hilfe von anderen Medien. Deshalb verlieren die traditionellen Medien zunehmend ihre Funktion als Vermittler.

Ist das “Gesetz für Blogger” eine unmittelbare Folge dieser Situation?

Der Grundgedanke dieses Gesetzes ist klar und eindeutig. Einige Blogger können heute mit den traditionellen Medien konkurrieren und somit im traditionellen Sinne als Medien gelten. Aber ich habe bezüglich der Umsetzung einige Bedenken. Bisher erkenne ich keinen Mechanismus, keinen akzeptablen Plan, der das große Risiko von Missbrauch verringert.*

Sie haben an Projekten für wichtige russische Medien wie Isvestia, RIA Novosti oder Argumenty i Fakty gearbeitet. Die Arbeit an welchem Projekt war für Sie am kompliziertesten?

Für mich war es immer kompliziert, mit der Trägheit anderer zu arbeiten. Alle meine Projekte sind digitale Versionen der traditionellen Medien. Diese Arbeit forderte von mir und meinem Team immer die Auseinandersetzung mit dem Widerstand vom konservativen Teil der Redaktion. Wir mussten die anderen umstimmen. Es war immer der schwierigste aber auch der interessanteste Teil. Es war auch immer interessant, der Zeit voraus zu sein, die Medien-Trends vorauszusagen, die Reaktion des Publikums zu erahnen.

Im letzten Jahr wurde den Chefredakteuren von den einflussreichen Medien RIA Novosti und Lenta.ru gekündigt. Für viele Leute war es ein Signal für die Krise im russischen Journalismus. Jemand hat auch gesagt, dass der „russische Journalismus tot sei“. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Natürlich ist es kein Tod. Unser Beruf ist zu alt und zu nah am Leben. Solange wir leben, solange etwas geschieht, solange wird es den Beruf des Journalisten geben. Wir beobachten allerdings eine neue Entwicklung in den russischen Medien: Anführer, Teams und Medienorientierungen wechseln. Nicht nur russische Medien, sondern Medien weltweit delegieren zunehmend ihre Funktionen an andere Marktteilnehmer. Viele Politiker, Prominente oder Unternehmer umgehen die Medien und kommunizieren mit dem Publikum direkt. Fast jeder hat ein Benutzerkonto in einem Sozialen Mediennetzwerk und benutzt es als Kommunikationsplattform. Selbstverständlich gibt es noch Situationen, in denen Medien notwendig sind, z.B. als Reputationsträger. Das Publikum vertraut den Medien etwas mehr. Und was in den Medien geschrieben wird, gilt als besonders wichtig.

Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind sehr interessant. Journalisten wechseln aus der Medienbranche zu großen Konzernen. Die Zahl traditioneller Journalisten bei Zeitungen und Zeitschriften sinkt; dafür finden sie häufiger Arbeit in großen Unternehmen. In Zukunft könnten Marktteilnehmer, die früher nicht konkurrierten, Gegner werden. Große Banken und Wirtschaftszeitungen werden zum Beispiel um die Meinungsbildung bei Bankdienstleistungen rivalisieren.

Vor ein paar Monaten hat der russische Kommunikationsminister Alexei Volin in einem Interview gesagt, dass das professionelle Niveau der russischen Journalisten sehr niedrig sei. Wie denken Sie darüber?

Das kann man so nicht sagen. Sicherlich gibt es Blogger ohne professionelle Ausbildung, die lebhafter, schneller und präziser schreiben und besser fotografieren und drehen als professionelle Journalisten. Anderseits gibt es auch Berufsjournalisten, die sowohl Vorbilder für ihre Kollegen als auch für das Publikum sind. Ich kann nicht sagen, dass das professionelle Niveau in katastrophalem Maß steigt oder sinkt. Die letzten acht bis neun Jahre habe ich Vorlesungen an der staatlichen Moskauer Lomonossov-Universität gehalten und während dieser Zeit keine Verschlechterungen feststellen können. Im Gegenteil, die Studenten sind jetzt ernster und strenger, aber nicht alle Absolventen bleiben im Medienbereich.

Die Beziehung zwischen Propaganda und Journalismus ist gerade im Ukraine-Konflikt sehr wichtig. Können und müssen diese zwei Begriffe nebeneinander stehen?

Propaganda ist ein Genre, das keine Zweifel lässt: ein Standpunkt wird kontinuierlich und aggressiv vorgegeben. Dagegen gibt es beim Journalismus die Chance für Zweifel. Er ermöglicht verschiedene Bilder und lässt die Bildung der eigenen Meinung zu.

Meine Verwandten aus der Ukraine schauen russisches und ukrainisches Fernsehen und haben mir geschrieben: “Wenn das russische Fernsehen Propaganda betreibt, dann betreibt das ukrainische Fernsehen Gegenpropaganda. Wir wissen nicht, wo man wahre Informationen finden kann.” Dieses Beispiel zeigt, dass die Leute einerseits Propaganda intuitiv erkennen, ihr aber andererseits oft nicht widerstehen können, vor allem dann nicht, wenn sie sich selbst kein eigenes Bild machen können. Sie suchen dann einen Kompass für die Sicht auf die Welt. Gleichzeitig formulieren Medien oft die Meinung, die es in den Köpfen des Publikums bereits gibt.

Wir sind Zeugen des dritten Informations-Weltkrieges. Propaganda üben jetzt fast alle Medien aus, nicht nur russische und ukrainische, sondern auch amerikanische, britische usw. Aggressive Propaganda geht vor allem von Bloggern aus. Sie drücken sich direkter und drastischer aus. Mit Blick auf die Ukraine sind alle Meinungen derzeit übertrieben. Ich sehe in dieser Situation nur zwei Auswege: möglichst viele verschiedene Medien lesen oder überhaupt nichts lesen.

 

* Das “Gesetz für Blogger” fordert von Bloggern, die täglich mehr als 3.000 Leser haben, ihre Seite zu registrieren. Es ist bislang jedoch nicht klar, in welchen Situationen Blogger tatsächlich für ihre Inhalte zur Verantwortung gezogen werden und wie die Einhaltung des Gesetzes kontrolliert werden wird.

 

 

Bildquelle: Jürg Vollmer/flickr.com

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